Europas Rückstand bei digitalen Technologien erscheint vielen schon als gesetzmäßiger Zustand. Die Ankündigung staatlicher Förderprojekte erntet kaum mehr als routinierten Spott – erst recht, wenn der Name des Vorhabens Anleihen bei mythischen Gestalten macht. Gaia-X wurde von Anfang an mit wenig schmeichelhaften Etiketten behängt – „Cargo-Kult“, „Kopfgeburt“, „Staats-Cloud ohne Innovation“ und natürlich „Papiertiger“. Aber die Fürstreiter des Projekts geben nicht auf, im Gegenteil: Es werden immer mehr in vielen europäischen Mitgliedsstaaten, Dutzenden Piloten und zahlreichen Branchen. In diesem Jahr entstehen die ersten Bauteile des Gaia-X-Codes. Zeit, mit ein paar Mythen und Missverständnissen aufzuräumen.
Ein neuer Euro-Hyperscaler hat doch keine Chance gegen die US-Clouds!
Ja, stimmt. Trotzdem ist der Absatz hier noch nicht zu Ende. Tatsächlich mag anfangs manch einer der Initiatoren mit dem Gedanken geliebäugelt haben, ein europäisches Airbus für die Cloud aufzubauen. Für Missverständnisse sorgte vielleicht auch der politische Kontext: Der zuständige deutsche Fachminister Peter Altmaier hatte Monate vor Ankündigung des Projekts seine Industriestrategie 2030 präsentiert, die den Aufbau nationaler und europäische Champions empfahl. Aber aus Gaia-X wird kein kommerzieller Konkurrent zu den etablierten Public-Cloud-Hyperscalern. Denn Gaia-X ist ein Ökosystem, keine Plattform. Doch wo liegt der Unterschied?
Der Begriff „Cloud-Plattform“ meint die technische Infrastruktur eines einzelnen Anbieters. Sie besteht sie aus einem Netzwerk von Rechenzentren, verschiedenen Software-Werkzeugen und Front-ends. Ein Plattform-Geschäftsmodell zielt darauf, möglichst viele Kunden anzuziehen, die idealerweise auch ihren kompletten IT-Bedarf bei einem Anbieter stillen. Nachteil: Ein solcher Vendor-Lock-in macht den Wechsel zur Konkurrenz, erst recht das Orchestrieren verschiedener Plattformen anspruchsvoll und teuer für Kunden.
Als „Cloud-Ökosystem“ verfolgt Gaia-X die gegenteilige Strategie: Durch gemeinsame Regeln, Standards und Open-Source-Technologie macht Gaia-X die Plattformen verschiedener Anbieter kooperationsfähig und interoperabel. So können Kunden leichter Angebote kombinieren und Daten sicher und transparent mit Partnern über Plattformgrenzen hinweg teilen – das ist der Schlüssel zur Datenökonomie. Die passende Strategie für die digitale Transformation Europas ist also kein weiterer Hyperscaler, nur unter EU-Flagge, sondern ein Ökosystem: Indem es alle Anbieter, ausdrücklich auch von außerhalb Europas, auf gemeinsame Rahmenbedingungen nach europäischen Vorgaben verpflichtet.
Die großen Public Clouds bieten doch schon alle Funktionen. Ein Nachahmerprojekt kann am Markt nicht überzeugen.
Das Problem an dieser Kritik ist die Perspektive auf eine einzelne Cloud: Gaia-X wurde nicht ins Leben gerufen, weil die eine oder andere US-Cloud zu wenig Funktionen böte. Als Ökosystem nimmt Gaia-X den gesamten Markt für Cloud-Dienste in Europa in den Blick. Das Ziel sind neue Funktionen und Spielregeln für das Zusammenspiel aller Provider und Kunden. Kurz: Es geht um Rahmenbedingungen für den Markt, nicht um ein paar Features.
Verbessern will das Projekt vor allem die Wahlfreiheit für Kunden bei Auswahl und Kombination von Cloud-Services sowie das Thema Innovation. Denn hier haben die Hyperscaler einen blinden Fleck: Ihre Plattformen sind als Allzweck-Clouds konzipiert. Ihr Geschäftsmodell fokussiert auf massentaugliche und skalierbare Anwendungen.
Europas wirtschaftliche Stärke gründet aber nicht auf Streamingdiensten, E-Commerce-Portalen und sozialen Netzwerken, sondern auf den komplexen Wertschöpfungsketten seiner hochspezialisierten Dienstleistungs- und Industrieunternehmen. Um dieses Geflecht an Kooperationen aus Spezialisten und Hidden Champions zu digitalisieren, braucht es Innovation in Tausend Nischen. Hier „skalieren“ Services nicht wie in Massenmärkten, das macht sie wirtschaftlich uninteressant für das Silicon Valley. Entsprechend sehen Marktforscher für Europa einen starken Trend zu spezialisierten Industrie-Clouds. Für diesen Bedarf schafft Gaia-X die nötigen Rahmenbedingungen, jüngst etwa durch Ausschreibung entsprechender Federation Services. Mit ihnen können Branchen eigene Anforderungen für eine Industriecloud technisch umsetzen.
Gaia-X ist staatliche Planwirtschaft und hat darum keine Aussicht auf Erfolg.
Dieser Vorwurf ist Ausdruck falscher Erwartungen an staatlich geförderte Forschungs- und Industrieprogramme. Entwicklung und Vermarktung von Produkten sind selbstverständlich am besten bei Unternehmen aufgehoben. Das gilt auch für Cloud-Plattformen. Der Staat kann hingegen die Voraussetzungen für Innovation verbessern, indem er Grundlagen- und angewandte Forschung finanziell unterstützt. Zum Beispiel entstanden vor fünfzehn Jahren im Rahmen des IT-Forschungsprojekts Theseus zahlreiche Patente, Geschäftsmodelle und Dienste rund um semantische Suchtechnologien – aber eben kein neues Google.
Der Vorwurf der Planwirtschaft unterstellt, dass staatliche Bürokratie alles vorgäbe, ohne sich mit der Wirklichkeit des Marktes auseinanderzusetzen. Das ist bei Gaia-X eben genau nicht der Fall. Das Projekt besteht nicht nur aus einem kleinen Konsortium von ein paar Großunternehmen, die die Fördermillionen unter sich aufbrauchen.
Neben der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL) in Brüssel als Verband und institutionellem Kern bilden über 300 Anwenderunternehmen und -organisationen aus Wirtschaft und Wissenschaft die zweite Säule des Projekts. Sie organisieren sich auf Ebene der Mitgliedsstaaten in nationalen Hubs, um die Besonderheiten der verschiedenen Volkswirtschaften angemessen abzubilden. Für ihre Branchen und Themenbereiche erarbeiten die Mitglieder ihre besonderen Anforderungen an eine europäische Cloud- und Dateninfrastruktur. Das geschieht nicht nur in den Hubs und Arbeitsgruppen, sondern auch in über 70 Pilotprojekten, aus zehn Branchen in 17 EU-Mitgliedsstaaten.
Hierbei geht es immer um konkreten Nutzen durch den Einsatz von Gaia-X: also um wirtschaftliche Mehrwerte für Unternehmen, aber ebenso um Fortschritte für Forschung, Verwaltungsprozesse, im Gesundheitswesen oder im Alltag von Bürgerinnen und Bürgern. Der Blickwinkel eines einzelnen Cloud-Providers, und sei er auch noch so groß, reicht nicht aus, um das zu erreichen. Darum ist Gaia-X keine solitäre Cloud-Plattform, sondern ein Ökosystem, das digitalen Fortschritt für viele gesellschaftliche Bereiche in Europa anstrebt.
Bei Gaia-X mischen zu viele Interessenvertreter mit. Das macht das Projekt schwerfällig und langsam.
Die Bandbreite der Beteiligten und Interessen ist tatsächlich eine Herausforderung. Aber sie ist notwendig. Denn sie verschafft dem Projekt auch seine Legitimität. Erinnern wir uns: Bei Gaia-X geht es nicht um neue Features für eine Cloud-Plattform, sondern um Rahmenbedingungen für den gesamten Cloud-Markt in der EU.
Insofern ist Gaia-X auch ein politisches Projekt. Und eben daran mangelt es dem Cloud-Markt bisher: fairen Spielregeln für alle. Die sollten nicht allein von Vorständen einiger kommerzieller Anbieter, zumal von außerhalb Europas, entschieden werden. Schließlich basieren die Zukunftstechnologien des 21. Jahrhunderts wie Künstliche Intelligenz, vernetzte Industrieproduktion, Telemedizin, autonome Mobilität, Smart Citys und die digitale Verwaltung allesamt auf der Verfügbarkeit passender Cloud-Infrastrukturen.
Bei Gaia-X können wir Europäer eine unserer größten Stärken einbringen: Die Fähigkeit Kompromisse zu schließen und widersprüchliche Interessen zu einem Gemeinsamen zu formen – auch wenn hinterher keiner weiß, wie man das Ganze dann nennen soll. Staatenbund, supranationaler Verbund, Cloud-Ökosystem, Dataspaces, föderiert, dezentral…
Die Vielstimmigkeit von Gaia-X ist also kein Bug, sondern ein Feature!
Bis zum nächsten Mal,
Andreas Weiss & Thomas Sprenger
Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.de
Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.de führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.
Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.