Ein europäisches Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten

Hinter der europäischen Idee steckt im Kern die Überzeugung, nur gemeinsam stark zu sein. Das gilt auch für die Industriepolitik: So gelang den Europäern in den 1970er Jahren mit Airbus der Aufbau eines kontinentalen Flugzeugbauers, der es mit den US-Riesen Boeing und McDonnell Douglas aufnehmen konnte. Fünfzig Jahre später meldet die Europäische Union mit ihrer Initiative Gaia-X erneut ihren Anspruch an, einen globalen Zukunftsmarkt europäisch mitzugestalten. Diesmal geht es um die digitale Cloud-Ökonomie, aber es ist komplizierter: Gaia-X will nicht kleine europäische Anbieter zu einem großen verschmelzen, sondern vernetzt sie in einem Ökosystem. In dem sind auch die konkurrierenden Hyperscaler aus den USA und China prinzipiell willkommen. Lesen Sie in dieser Folge, warum aus Gaia-X kein europäischer Hyperscaler wird und warum jede noch so große Cloud-Plattform zu klein sein wird, um die Digitalisierung in Europa alleine zu stemmen.

Düsenjet oder lahme Ente?

Bedeutung und Lage der Cloud-Ökonomie von heute erinnern an die Flugzeugindustrie Ende der 1960er Jahre: Europa hatte nach dem zweiten Weltkrieg nicht aufgehört, gute Flugzeuge zu bauen. Doch die Luftfahrtindustrie auf dem Kontinent war fünfzehn Jahre später zersplittert und beherrscht von widersprüchlichen nationalen Interessen. Stattdessen dominierten Flugzeugbauer aus den USA die Luftfahrtmärkte der westlichen Hemisphäre. Mehr als alle Konkurrenten profitierten sie vom Boom der zivilen und militärischen Luftfahrt während des kalten Krieges.

Entsprechend groß war die Skepsis, als Frankreich und Deutschland am 29. Mai 1969 auf der Pariser Luftfahrtschau eine Vereinbarung unterzeichneten für den Bau des allerersten Airbus’. Die Produktion des neuen Fliegers wie auch der Transport seiner Bauteile würde sich über den halben Kontinent verteilen: Die Tragflächen sollten ursprünglich aus Großbritannien kommen, Teile des Rumpfes und das Cockpit aus Frankreich, die Deutschen sollten alles zusammenbauen. Doch die Briten waren im Frühjahr noch kurz vor knapp abgesprungen, weil sie eigene Pläne verfolgten. Es sah also nicht gut aus 1969.

Heute, fünfzig Jahre und 12.000 Flugzeuge später, ist Airbus der größte zivile Flugzeugbauer der Welt. Die vermeintliche Schwäche der Europäer erwies sich im Lauf der Jahrzehnte als Stärke: In schwierigen Jahren konnte Airbus vor allem auf die Achse der beiden Gründerstaaten Frankreich und Deutschland zählen. Das europäische Joint Venture schloss die verteilte Ingenieurskompetenz zu einem kontinentalen Unternehmen zusammen. Die Kooperation von Menschen aus verschiedenen Kulturen und Ländern machte das Start-up außerdem attraktiv für talentierte und gut ausgebildete Fachkräfte. Eine Erfolgsgeschichte, zu der dann bald auch die Briten stießen.

Eine neue Strategie für die Cloud

Wäre Airbus nicht die perfekte Vorlage für die digitale Cloud-Ökonomie? Wieder stehen einer zersplitterten europäischen Anbieterlandschaft wenige Markt- und Technologieführer aus den USA und neuerdings auch aus China gegenüber. Wieder droht unser Kontinent in einer der Kernbranchen für die wirtschaftliche Entwicklung des Jahrhunderts den Anschluss zu verlieren. So dachte wohl auch die Presse, als die Wirtschaftsminister Deutschlands und Frankreichs fünfzig Jahre nach der Pariser Luftfahrtschau ihre europäische Initiative für die Cloud vorstellten. Aber aus Gaia-X wird kein Airbus für das digitale Zeitalter. Europa hat sich dieses Mal für eine andere Strategie entschieden.

Gaia-X wird kein europäischer Hyperscaler

Warum kein Airbus-Konsortium für die Cloud-Industrie dieser Aufgabe gewachsen wäre, zeigt Harald Summa, Hauptgeschäftsführer des eco-Verbands der Internetindustrie und CEO von DE-CIX, Anbieter für Internetzwerkverbindungen und Betreiber großer Internetknoten. Die digitale Ökonomie wird in Zukunft Datenmengen verarbeiten müssen, die uns heute noch unvorstellbar erscheinen. Dafür braucht es eine ganze Industrie miteinander vernetzter Dienstleister.

Als Maßstab nennt Summa in seinem Blog ein selbstfahrendes Auto. Selbst ein einzelnes Versuchsfahrzeug, ohne mit anderen Autos vernetzt zu sein, erzeugt schon ein Terabit an Daten, und zwar an nur einem einzigen Tag! Zum Vergleich: Weltweit alle Standorte des DE-CIX, darunter der weltgrößte Internetknoten in Frankfurt, übertragen heute mehr als 10 Terabit pro Sekunde. Ein Tag hat 86.400 Sekunden. Das heißt, etwas mehr als eine Million selbstfahrender Autos würden ebenso viele Daten erzeugen, wie heute große Teile des Internets. Dabei ist die vernetzte Mobilität nur ein Thema unter vielen bei der digitalen Transformation.

Was kommt da auf uns zu?

Summa umreißt den künftigen Bedarf der datenbasierten Gesellschaft noch mit weiteren Zahlen: Bis Ende des Jahrzehnts würden allein die europäischen Unternehmen aus dem Angebot von 5.000 bis 6.000 Cloud-Providern wählen können. 10.000 Rechenzentren werden seiner Ansicht nach nötig sein, um die Datenmengen unseres Kontinents zu verarbeiten.

Die wichtigsten Fortschritte warten im Longtail

Gegenwärtig prägt noch der Plattformkapitalismus des Silicon Valley unsere Wahrnehmung von Digitalisierung: Anbieter vermarkten ihre Produkte als Teil einer technischen Plattforminfrastruktur. Nach dem Prinzip „The Winner takes it all“ muss ein Betreiber schneller wachsen als seine Konkurrenten, um am Ende möglichst alle Kunden auf seiner Plattform zu vereinen. Wie beim Telefonnetz steigt ihr Wert mit der Zahl der Teilnehmer. Bei standardisierten Diensten funktioniert das ausgezeichnet. Hier erwirtschaften Cloud-Plattformen als so genannte Hyperscaler unvergleichliche Größenvorteile und Innovationen am Fließband.

Abseits des Massenbedarfs fallen Skalenvorteile und Margen dagegen deutlich magerer aus, hier gestaltet sich das Geschäft mühsamer, etwa bei Spezialanforderungen einzelner Branchen oder Themen wie der interdisziplinären Wertschöpfung aus Daten über unsere Ozeane, wie wir im ersten Betrag gezeigt haben (LINK FOLGE 1). Doch gerade der Longtail mit seinen Tausend Nischen bietet Nutzen und Fortschritt auch jenseits von Apps und Online-Shopping, Social Media und Werbetargeting.

Das zeigt auch die gemeinsame KI-Studie von eco und Arthur D. Little: Bis heute beschränkt sich digitale Wertschöpfung vorwiegend auf leicht verfügbare Daten, die unter Monopolbedingungen gesammelt werden, wie etwa durch Soziale Netzwerke, Shoppingportale und Suchmaschinen. Kein Wunder, dass deren Betreiber auch die größten Cloud-Infrastrukturen stellen.

Ein europäisches Ökosystem für digitale Innovation

Ein europäischer Hyperscaler wäre lediglich der aussichtslose Versuch, den dominanten Plattformen der Amerikaner und Chinesen Marktanteile im Massengeschäft streitig zu machen. Die ungezählten Spezialanforderungen der mittelständisch geprägten Wirtschaft in Europa blieben weiterhin unerfüllt.

Die passende Strategie für die digitale Transformation unseres Kontinents ist darum kein Großkonzern unter EU-Flagge, sondern ein Ökosystem: Indem es alle Anbieter, ausdrücklich auch von außerhalb Europas, auf gemeinsame Verfahren, Regeln und Standards für Europa verpflichtet. Unter diesen Rahmenbedingungen und jenseits der Plattformmonopole könnten kleine und mittelständische Cloud-Anbieter wettbewerbsfähige Dienste entwickeln und vermarkten.

Die bereits erwähnte KI-Studie zeigt auch: Zwei Drittel des Wertschöpfungspotenzials aus Daten liegen in Bestandsprozessen, also in unternehmens- und branchenspezifischen Abläufen und Geschäftsmodellen. Um sie zu heben, braucht es Innovation in der Fläche, also nicht fünf, sondern 5.000 Cloud-Dienstleister, die jeden Stein umdrehen.

Während die Europäer mit Airbus die europäische Flugzeugindustrie des 20. Jahrhunderts zentralisierten, streben sie für die Cloud-Industrie unseres Jahrhunderts das Gegenteil an. Gaia-X wurde gegründet, weil kein Hyperscaler, sondern nur ein Netzwerk großer Dienstleister und kleiner Spezialisten die datenbasierten Märkte Europas zum Fliegen bringen wird.

Im nächsten Beitrag unserer Reihe geben wir Ihnen einen Überblick über die Gaia-X-Initiative, was sie im Kern ist, welche Ziele sie verfolgt, wer hinter ihr steht und was die nächsten Meilensteine sein werden.

See you soon,
Andreas Weiss & Thomas Sprenger


Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu

Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.

Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.

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