Zum zweiten Mal trafen sich am 5. und 6. September in Berlin die führenden Köpfe der Gaia-X-Szene zur GXFS Connect. Ging es 2022 noch um die Idee hinter der Initiative und den Start der Förderprojekte, diskutierten die über 40 Speaker:innen in diesem Jahr über konkrete Fortschritte beim Aufbau eines europäischen Datenökosystems. Passend zum Motto „Entering The Next Level“ stand diesmal alles im Zeichen technischer Umsetzung und einer schnell wachsenden Community. So arbeiteten zeitgleich zum Kongressprogramm 51 Programmierer:innen und Software-Architekt:innen vor Ort am und mit dem GXFS-Code und ihren Gaia-X Implementierungen. Als Referenz an die knapp 300 Gäste aus ganz Deutschland, Europa und darüber hinaus fand die Veranstaltung erstmals komplett in englischer Sprache statt.
Digitaler Wandel als Gemeinschaftsprojekt
Im digitalen Zeitalter bedeutet Fortschritt: Daten zu teilen. „Aber für zwei Unternehmen ist es schwierig, die Welt zu verändern, solange man nicht weiß, ob andere mitziehen“, sagte Ernst Stöckl-Pukall, Referatsleiter für Digitalisierung und Industrie 4.0 im deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. „Jetzt muss Gaia-X die nötige Anziehungskraft und die kritische Masse aufbauen, um den Durchbruch für den digitalen Wandel in Europa zu erreichen“, sagte Harald Summa, Gründer und Ehrenpräsident des eco – Verband der Internetwirtschaft e.V.
Für den Gastgeber, GXFS-Projektleiter und neuen eco-Geschäftsführer Andreas Weiss waren darum Netzwerken und der Austausch von Erfahrung und Wissen das vorrangige Ziel für die diesjährige GXFS Connect. „Nicht Technologie, sondern eine lebendige und engagierte Community wird darüber entscheiden, ob der digitale Binnenmarkt in Europa aufblüht“, sagte Weiss. „Wir brauchen datenbasierte Lösungen, die sich im industriellen Maßstab skalieren lassen. Dazu rufen wir jetzt überall in Europa Datenföderationen ins Leben“, so Weiss. „Das schafft niemand für sich alleine, das geht nur zusammen.“
Ein Ökosystem, das auf Vertrauen beruht
„Bisher nutzten Menschen und Unternehmen Internetplattformen, in dem sie alle ihre Daten dorthin speichern – und dann um Hilfe rufen, wenn sie die Kontrolle verlieren. Mit Gaia-X gehen wir den umgekehrten Weg“, erklärte Roland Fadrany, Chief Operating Office der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL), dem Zentralverband der Initiative in Brüssel.
„Wir verstehen Gaia-X als Plattform für Vertrauen und Transparenz“, sagte die Juristin Susanne Dehmel, Mitglied der Geschäftsführung beim Bitkom und Vorstand bei der Gaia-X AISBL. Aber das sei kommunikativ noch ein langer Weg, so Dehmel. Nach Erfahrung von Harald Summa ist immer noch Misstrauen die Standardreaktion beim Gedanken, Daten mit Dritten zu teilen. Allerdings wusste Catherine Simonnin, Tech Lead Trust beim französischen Telekommunikationsprovider Orange Business, dass Datenschutzbedenken kein deutsches Alleinstellungsmerkmal sind: „Es ist ebenso ein typisch französisches Problem.“
Für Dr. Maria Barros Weiss, Vice President Digital Ecosystem Division bei IONOS, muss vertrauenswürdiger Datenaustausch auf mehreren Ebenen zugleich ansetzen: „Nutzer müssen der Identität von Teilnehmern vertrauen können, ebenso der Zuverlässigkeit eines Dienstes und, dass Rechtsvorschriften eingehalten werden oder Missbrauch sanktioniert werden kann.“ Durch ein solches Ökosystem für vertrauenswürdige Datenräume verschaffe sich Europa einen Wettbewerbsvorteil auf digitalisierten Märkten, sagte Barros Weiss.
Dank dieses Vertrauens erwartete Susanne Dehmel Erfolge mit Gaia-X gerade auch in Branchen, in denen datenbasierte Wertschöpfung bisher nahezu unmöglich war. „Im Gesundheitswesen sind die rechtlichen Hürden für Datenaustausch eine große Herausforderung. Aber Gaia-X-Projekte wie Health-X zeigen, dass der gesellschaftliche Nutzen datenbasierter Lösungen dort umso größer ausfällt“, sagte Dehmel.
Laut Oliver Süme, Spezialist für Technologie-, Datenschutz- und IT-Recht hat sich aber auch die europäische Gesetzgebung weiterentwickelt: „Noch vor fünf Jahren gab es im europäischen Recht fast nichts zum Thema Datenaustausch, Datenökonomie und Wertschöpfung aus Daten. Auf diesem Feld hat sich seitdem immens viel getan“, sagte Süme, Partner bei Fieldfisher und Vorstandsvorsitzender des eco – Verband der Internetwirtschaft e.V.
Lässt sich die Anwendung von Datenrecht automatisieren?
Nach Ansicht von Professorin Dr. Beatrix Weber schafft Gaia-X keinen neuen Rechtsrahmen für Datenräume, sondern hilft bei der technischen Umsetzung in das wachsende EU-Datenrecht: „Frameworks wie die Gaia-X Federation Services (GXFS) etablieren Standards und bieten einheitliche Verfahren, um Recht in Computercode abzubilden.“ Weber, die am Institut für Informationssysteme der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hof forscht, will mit Gaia-X die bislang analoge Rechtspraxis weitgehend automatisieren: „Wir wollen Anwälte für weite Teile von Vertragsprozessen überflüssig machen.“
An dieser Aufgabe arbeitet auch Pierre Gronlier. Auf der GXFS Connect 2023 berichtete der Chief Technology Officer der Gaia-X AISBL, dass automatisierte Verträge in der EU bereits an einer einheitlichen Fachsprache scheitern. „Was ist ein Vertrag?”, fragte Gronlier. “Ein Vertrag kann eine Münze sein, die ich in einen Automaten stecke, oder ein Dokument, das ich vor dem Kauf einer Immobilie per Hand unterschreiben muss. Wenn wir datenbasierte Transaktionen automatisieren wollen, brauchen wir Eindeutigkeit“, sagte Gronlier. Darum entwickeln er und sein Team unter anderem einen juristischen Begriffskanon, eine sogenannte Ontologie, auf die Computerverfahren widerspruchsfrei zurückgreifen können.
Für den Cybersicherheitsexperten und eco-Vorstandsmitglied Professor Dr. Norbert Pohlmann reicht selbst „Trust by Design“ noch nicht aus, damit sich Unternehmen und Bürger:innen auf die neue Datenökonomie einlassen: „Wir brauchen bekannte und vertrauenswürdige Akteure, die als Vorbilder vorangehen. Das gilt für den Staat wie auch für die Wirtschaft“, forderte Pohlmann, der an der Westfälischen Hochschule das Institut für Internet-Sicherheit leitet.
GXFS-Studie zur Halbzeit in den Förderprojekten: GXFS dient als Kickstarter, aber braucht weitere Community Arbeit
Eine solche Vorbildfunktion übernehmen in ihren jeweiligen Branchen aktuell besonders die Gaia-X-Förderprojekte und deren Konsortialmitglieder. Auf der GXFS Connect 2023 präsentierte Professor Dr. Jens Böcker von der Beratungsfirma Böcker Ziemen Consulting die Ergebnisse der zweiten Studie zur Implementierung der Gaia-X Föderationsdienste. Die Umfrage im Auftrag des deutschen GXFS-Projektbüros dokumentiert die Fortschritte im Vergleich zur Vorjahresstudie.
Die Erkenntnis: Mitte 2022 waren die meisten Projekte noch mit dem organisatorischen Onboarding beschäftigt. Inzwischen sind Architekturen und Geschäftsmodelle pilotiert, die relevanten GXFS-Komponenten identifiziert, und die Projekte starten mit der Programmierung der Gaia-X-Datenräume. Die meisten Prototypen befinden sich in einem frühen Laborstadium, während zwei Förderprojekte in der anonym durchgeführten Umfrage angaben, ihre Lösungen bereits im Feld zu erproben.
Die Umfrageergebnisse ergaben außerdem eine hohe Zufriedenheit mit der Kommunikation rund um die Gaia-X Föderationsdienste. Außerdem wertschätzten sie die interaktiven Angebote im Rahmen der Community-Arbeit zu den GXFS wie Tech-Workshops, Hackathons, Konferenzen und Messepräsenzen. Neben technisch fundierten Informationen standen vor allem Angebote für Netzwerken ganz oben auf der Wunschliste für die Zukunft.
FOSS-Community wird zum Schlüsselfaktor
Ein Unterschied zur ersten GXFS Connect markierte die Rolle der Programmier:innen und Software-Architekt:innen: Es gab kein Panel, das nicht ihre tragende Rolle für das kommende europäische Datenökosystem betonte. Parallel zum Kongress tauschten sich die Entwickler:innen in einem separaten Workshop über funktionale Anforderungen und technische Lösungen aus den Förderprojekten aus.
Die Bedeutung der Community für Gaia-X ist umso größer, da der Großteil der Technologie als Open-Source-Software entsteht. Über den Entwicklungspfad bei föderierte Daten Ökosysteme bestimmt in Europa somit kein einzelner Softwarehersteller oder Plattformanbieter, sondern die Gemeinschaft der beitragenden Expert:innen und Unternehmen.
Entsprechend deutete Christian Schmitz, Director OpenSource bei Plusserver, das Kürzel FOSS zu Freedom through Open Source Software statt Free and Open Source Software um. Mit Gaia-X bewahre sich Europa die Freiheit vor technologischer Abhängigkeit in einem zentralen Innovationsfeld. „Trust und Open Source hängen zusammen: Vertrauen entsteht durch Unabhängigkeit und einen transparenten Entwicklungsprozess“, so Schmitz.
Genau dafür will Boris Baldassari sorgen, Senior Software Engineer bei der Eclipse Foundation. In diesem Jahr übergab das GXFS-Projektbüro die Gaia-X Federation Services in die Obhut von Europas größter Open-Source-Stiftung. Dort entwickelt die Community die Föderationsdienste unter dem Projekttitel Cross Federation Services Components (XFSC) weiter.
Zusammen mit den Projektleiter:innen Lauresha Memeti (eco), Steffen Schulze (T-Systems International) und Cristina Pauna (Gaia-X AISBL) will Baldassari die für jedes Eclipse-Projekt typischen Grundwerte garantieren: „Bei uns gelten Offenheit und Transparenz über alle Entwicklungsschritte sowie eine konsequente Meritokratie. Das bedeutet: keine Privilegien, dafür echte Wertschätzung für die Beiträge der Entwickler:innen.“
Open-Source-Reifegrad & Community-Skills
Wie es um den Reifegrad der beteiligten Unternehmen in Sachen Open-Source-Entwicklung steht? „XFSC ist noch ganz frisch. Alles ist bereit, wir werden sehen“, sagte Baldassari diplomatisch. Cristina Pauna, Program Manager für die Open-Source-Community bei der Gaia-X AISBL, hat schon mehr Erfahrung mit der Gaia-X-Szene gesammelt. „Auf einer Skala von eins bis fünf stehen wir ungefähr in der Mitte“, meinte die Community-Managerin. „Dass viele Beitragende noch unerfahren mit Open-Source-Entwicklung sind, zeigt auch, dass wir viele Unternehmen erstmals zur Mitarbeit gewinnen“, sagte Pauna. Umso wichtiger sei die Unterstützung durch die Eclipse Foundation.
Dass man in die Community-Arbeit erst hineinwachsen muss, erlebte auch Fabian Scheidt, Tech Delivery Subject Matter Expert bei Accenture Industry X. Sein Team für das Leuchtturmprojekt GAIA-X 4 ROMS arbeitet an einem Datenraum für selbstorganisierende Verkehrssysteme, bei denen die nächste Fahrgelegenheit den Fahrgast findet, statt umgekehrt. „Bei der Arbeit am Gaia-X-Code denkt man schon mal: Bin ich zu dumm, oder ist das ein Fehler? Finden wir einen Fehler, spielen wir unsere Lösung an die Community zurück. So geht Open Source!“, sagte Scheidt. Sein Ratschlag an alle, die sich zum ersten Mal engagieren: „Glaubt nicht, ihr seid die Besten. Bittet offen um Hilfe und nehmt sie an!“
Kai Meinke, Co-Founder & Business Lead bei der deltaDAO AG sowie Lead Open Source Software Community bei der Gaia-X AISBL, zog ein positives Fazit für die technologischen Fortschritte von Gaia-X: „Technologie stoppt uns nicht mehr, sie ist da. Jetzt kommt es auf Zusammenarbeit an, darauf, die richtigen Leute zusammenzubringen.“
Zuhören, vernetzen und über den Tellerrand schauen
Für Dr. Christina Schmidt-Holtmann spielen die nationalen Gaia-X Hubs beim Community-Building eine Schlüsselrolle: „Wir brauchen ein Bewusstsein für die Bedürfnisse der unterschiedlichen Branchen.“ Die Referatsleiterin für Datenverfügbarkeit, digitale Souveränität und SPRIND beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, sieht in den Hubs die wichtigsten Anlaufstationen für alle Unternehmen, die nach datenbasierten Lösungen suchen und von der Entwicklung rund um Gaia-X profitieren wollen. „Der Einstieg in die Gaia-X-Welt erscheint oft fremd und herausfordernd. Hier bieten die nationalen Gaia-X Hubs Orientierung und die richtigen Kontakte“, sagte Schmidt-Holtmann. In Richtung Wirtschaft und besonders für den Mittelstand seien die Hubs der beste Einstieg in die Community, empfahl sie dem Publikum.
Parallel zu vielen anderen Speaker:innen betonten auch die Hub-Leiter:innen Francisca Rubio (Spanien), Georg Hahn (Österreich), Peter Verkoulen (Niederlande) und Jan Fischer (Deutschland), wie wichtig die länderübergreifende Zusammenarbeit zwischen den nationalen Organisationen ist. „Als Starthilfe für den Aufbau junger Länder-Hubs und für die Entwicklung eines funktionierendes Datenökosystem mit starken, datengetriebenen DSGVO-konformen Geschäftsmodellen für ganz Europa“, so Jan Fischer, Leiter beim Gaia-X Hub Deutschland.
„Die Europäer unterschätzen sich“
Jenseits aller Policies, Standards, Blaupausen und Projekte zog sich in Berlin ein neuer Geist durch Panels und Gespräche. Peter Verkoulen vom Gaia-X Hub Niederlande brachte es vielleicht am besten auf den Punkt: „Mit Gaia-X entsteht gerade eine neue, digitale Kultur in Europa, ein gemeinsames Verständnis, wie wir Probleme lösen.“
Die Befürchtung, Gaia-X erscheine dabei für Außenstehende allzu komplex und hermetisch, konnten Besucher:innen aus anderen Weltregionen übrigens nicht nachvollziehen. Für IT-Experte Maharshi Suchak, Co-Founder und Chief Product Officer bei smartSense Consulting Solutions in Ahmedabad, Indien, ist Gaia-X ein offenes Buch: „Die technische Dokumentation ist exzellent! Nach aufmerksamer Lektüre ist Gaia-X eigentlich ganz einfach und gedanklich zwingend. Europa ist hier weltweit führend. Wir wollen mit dabei sein, und die digitale Welt von morgen ein Stück besser machen.“
Wo stehen Gaia-X und die GXFS in einem Jahr?
Mit Blick auf die Fortschritte im nächsten Jahr wünschte sich eco-Projektmanagerin und Moderatorin Emma Wehrwein, dass die Entwicklung der Tool-Welt für Gaia-X Eigendynamik gewinnt. „Ich hoffe, in einem Jahr sagt uns die Community, was getan werden muss, um die Federation Services immer besser zu machen“, sagte Wehrwein.
Ihre Kollegin Vivien Witt, eco-Projektmanagerin und Moderatorin, schaute aus Anwender:innensicht auf das nächste Jahr: „Ich wünsche mir viele nutzer:innenfreundliche Portale und ein Dutzend verschiedener Katalogimplementierungen für neue Datenservices.“
Lauresha Memeti, technische Projektmanagerin bei eco und Moderatorin, betonte, wie sehr eine blühende Community persönliche Begegnungen braucht: „In der digitalen Welt tauschen wir uns virtuell über E-Mails und Videoschirme aus. Umso wichtiger ist, dass wir uns treffen und ein echtes Gespür für das ganze Bild zu bekommen. Veranstaltungen wie die GXFS Connect sind der Schlüssel, damit wir vorankommen und einander besser verstehen.“
Insofern muss die Wunsch-Schlagzeile von Gastgeber und eco-Geschäftsführer Andreas Weiss nicht erst in fünf Jahren auf den Titelseiten zu lesen sein: „Europe is back on track in the digital space!“
Andreas Weiss & Thomas Sprenger
Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu
Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.de führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.
Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.