Health-X: Ein gemeinsamer Datenraum für das Gesundheitswesen

Im Interview mit Harald Wagener, Leiter Cloud und IT am Berlin Institute of Health in der Charité

Ein Projekt unter Leitung der Berliner Charité will Daten aus unseren Smartwatches und Fitness-Apps für personalisierte Therapien nutzbar machen. Das verantwortliche Team um Harald Wagener, Leiter Cloud und IT am Berlin Institute of Health in der Charité, entwickelt dazu das „HEALTH-X dataLOFT“ als gemeinsame Cloud-Plattform für das Gesundheitswesen. Im Interview erklärt der Diplom-Informatiker, an welchen Anwendungen Projektpartner aus Forschung und Wirtschaft aktuell arbeiten und wie Bürger in einem digitalen Gesundheitssystem die Hoheit über ihre Daten behalten.

Herr Wagener, was macht meine Smartwatch so nützlich für das Gesundheitswesen?

Unsere Handys, Smartwatches und Apps erzeugen heute schon große Mengen an Gesundheitsdaten. Mit modernen Sensoren können selbst Consumer-Geräte Biowerte wie Bewegung, Puls, Blutsauerstoff, die Ausdauer unseres Herzens oder die Sicherheit unseres Gangs messen. Mittlerweile reichen manche Datenbestände bis zu fünfzehn Jahre in die Vergangenheit zurück. Daraus lassen sich wertvolle Informationen für Gesundheitsdienste und sogar individuelle Therapien, etwa bei der Behandlung von Krebs, gewinnen.

Solche Biowerte lassen sich doch auch auf konventionellem Weg messen.

Aber mit welchem Aufwand und in welchem Umfang? Sie brauchen dazu eine medizinische Fachkraft, die zudem nur wenige Datenpunkte erfasst. Ihre Smartwatch erledigt das automatisch und sammelt zu viel geringeren Kosten Hunderte oder Tausende Messpunkte für wichtige Biodaten, Tag für Tag. Mit dieser Datenbasis können Mediziner fundierter entscheiden, etwa die optimale Dosis einer Narkose oder einer Chemotherapie, ob Sie die Übungen für Ihren Rücken auch zu Hause richtig durchführen oder ob ein alter Mensch akut Hilfe braucht.

Warum kann ich Daten aus meiner Fitness-App nicht einfach meiner Ärztin zur Verfügung stellen?

Weil Ihre Ärztin damit ein Rechtsrisiko eingeht. Sie unterliegt strengeren Datenschutzbestimmungen als etwa der Hersteller Ihrer Smartwatch oder Fitness-App. Wenn Ihre Ärztin Ihre Selftracking-Daten nutzen will, muss sie, Stand heute, zuerst entsprechende Verträge mit Ihnen und dem Hersteller Ihres Geräts oder Ihrer App schließen. So entsteht ein irrwitziger Aufwand, der jede Innovation von vornherein verhindert.

Was macht den Austausch von Gesundheitsdaten so kompliziert?

Eine bis heute unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Gesundheitsmärkten: Im ersten Gesundheitsmarkt kümmern sich Praxen, Kliniken und Labore um die klassische Versorgung von Patienten. Ihre Daten dürfen nur unter hohen Auflagen verarbeitet und geteilt werden. Im zweiten Gesundheitsmarkt mit individuellen Gesundheitsdiensten, Wellness und Fitnesstrackern sind die Vorgaben weniger streng. Hier entstehen Daten, die im ersten Markt von großem Nutzen wären. Beide Bereiche existieren parallel, doch arbeiten nicht miteinander. Was fehlt, sind Standards und Verfahren, die die Übertragung von einem Datenschutzregime ins andere rechtssicher für alle Beteiligten regeln.

Was wollen Sie mit Health-X verändern?

Wir schlagen eine Brücke zwischen dem ersten und dem zweiten Gesundheitsmarkt. Unsere Plattform Health-X dataLOFT schafft einen gemeinsamen Datenraum. Hierin können Bürger ihre Gesundheitsdaten rechtssicher und vertrauensvoll mit Ärztinnen und Ärzten, therapeutischem Personal, Kliniken und Forschenden teilen. In dieser Gesundheits-Cloud wollen wir den schnell wachsenden Datenfundus aus Smartphones, Wearables, Apps oder Geräten wie digitalen Waagen für datenbasierte Ansätze in Medizin und Forschung zugänglich machen.

Wie überzeugen Sie Bürgerinnen und Bürger davon, den neuen Gesundheits-Datenraum zu nutzen?

Indem wir sie in den Mittelpunkt unseres Plattform-Konzepts stellen. Bürgerinnen und Bürger sind nicht mehr passive Leistungsempfänger wie im Gesundheitssystem, sondern werden zu aktiven Partnern. Als Besitzer ihrer Daten und wichtigste Datenlieferanten behalten sie die volle Kontrolle über ihre Daten. So wollen wir die Akzeptanz für datenbasierte Gesundheitslösungen erhöhen und die digitale Souveränität von Patienten stärken.

Wie funktioniert das praktisch?

Zum Konzept von Health-X gehört ein digitaler Zugang für Bürgerinnen und Bürger. Über die sogenannte Data Wallet App erhalten sie Kontrolle über alle ihre persönlichen Gesundheitsdaten. Die Data Wallet App wird damit zum Gesundheitsdaten-Cockpit, über die Nutzende persönliche Informationen erst freigeben, bevor Dritte darauf zugreifen dürfen.

Wie schützen Sie die Daten der Bürgerinnen und Bürger vor unerwünschtem Zugriff?

Eine harte Nuss, die wir konzeptionell und technisch zu knacken haben, ist die Frage nach der Identität der Nutzenden. Wie stellen wir sicher, dass ein Nutzer beim Datenzugriff tatsächlich derjenige ist, für den er oder sie sich ausgibt? Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Es gibt unterschiedliche Verfahren, um die Identität eines Nutzers digital zu prüfen: der neue Personalausweis zum Beispiel, die Krankenkassenkarte respektive die elektronische Gesundheitskarte. Um hierfür die beste Lösung zu finden, arbeiten wir mit der Bundesdruckerei zusammen: Das sind ausgewiesene Experten in Sachen Identität. Neben der zuverlässigen Identitätsprüfung stehen auf unserem Plan noch dreizehn weitere Meilensteine, die wir bis 2024 abschließen wollen.

Das Wirtschaftsministerium fördert Health-X mit 13 Millionen Euro. Woran arbeiten Sie konkret?

In unserem Kernteam entwickeln wir die Plattformtechnologie, bauen die Cloud-Strukturen auf und kümmern uns um das Projektmanagement. Technisch setzen wir auf der Arbeit der GXFS-DE auf. Sie liefert uns die Gaia-X-Referenzarchitektur sowie die Federation-Services für eine transparente datenbasierte Kooperation. Zeitgleich arbeiten vierzehn geförderte Projektpartner aus Deutschland an alltagstauglichen Lösungen im Rahmen von vier Themenfeldern oder Use Cases.

Zu unseren Partnern zählen Forschungseinrichtungen der Fraunhofer-Institute, die Freie Universität Berlin und die TMF, als Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung, Thinktanks wie das Hasso-Plattner-Institut, dazu zahlreiche Unternehmen und Start-ups aus der Gesundheitsbranche sowie Cloud- und IT Unternehmen aus Europa. Dreh- und Angelpunkt unserer Plattform wird die Data Wallet sein, die auf der Lösung unseres Partners polypoly basiert, um wirklich den Bürger*innen und Patient*innen die Kontrolle über ihre Daten in die Hand zu legen.

Neben der technischen Arbeit sind zwei weitere Aspekte im Fokus des Projekts: auf der einen Seite Betreibermodelle für die Plattform und die Use Cases sowie andererseits die Perspektive der Nutzenden, die wir über den gesamten Projektverlauf einbeziehen.

Bitte geben Sie uns einen Überblick über die vier Use Cases.

Beim ersten Use Case geht es um Prävention und darum, wie wir gesünder alt werden. Mit Daten aus Selftracking-Apps, Implantaten und der elektronischen Patientenakte lassen sich leistungsfähigere Frühwarnsysteme entwickeln, aber auch ganz neue, individuelle Gesundheitsdienste.

Im zweiten Bereich suchen Partner nach datenbasierten Lösungen für die klinische Versorgung. Unser Pilotprojekt entwickelt digitale Lösungen, um Krebspatientinnen und -patienten fundierter aufzuklären und sie noch gezielter behandeln zu können. Hierbei werden großvolumige Bilddaten aus Radiologie und Pathologie mit Befunden aus der elektronischen Patientenakte und Selftracking-Daten verknüpft. Unterstützt wird die Datenanalyse durch künstliche Intelligenz.

Use Case drei umfasst das weite Feld personalisierter Gesundheitsdienste: Ein Arzt könnte etwa mit Hilfe genetischer Daten viel sicherer prüfen, wie gut sein Patient ein bestimmtes Medikament verträgt. Vernetzte Daten helfen auch bei der Behandlung von Rückenschmerzen oder zur Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

In Use Case vier entwickeln unsere Partner praktische Lösungen für Datenspenden zu Forschungszwecken. Mit Health-X sollen Bürgerinnen und Bürger anonym und mobil ihre Gesundheitsdaten der Wissenschaft zur Verfügung stellen können.

Bei Health-X haben Sie eigens einen Wirtschaftsexperten an Bord, der datenbasierte Geschäftsmodelle für das Gesundheitswesen erforscht. Welche ökonomischen Chancen sehen Sie?

Die Vernetzung beider Gesundheitsmärkte ermöglicht neue Dienste und Finanzierungsmodelle, und das nicht nur für den zweiten Markt, sondern auch im Kernbereich in Form von digitalen Gesundheits-, Pflege- und Versorgungsangeboten. So wird ein einheitliches Datenökosystem für das Gesundheitswesen bereits bestehende Ansätze wie eine App auf Rezept vereinfachen. Schnittstellen müssen eben nicht mehr bei jeder Anwendung aufs Neue zwischen allen Beteiligten vertraglich vereinbart werden. Gemeinsame Standards und Architekturen werden die Transaktionskosten für digitale Dienste spürbar senken.

Vermarktet werden die neuen Dienste sowohl privat als auch als klassische Kassenleistungen. Ebenso arbeiten wir an Geschäftsmodellen im “As-A-Service-Modell“, bei dem Dritte die Health-X-Infrastruktur als Cloud-Dienste auf Abruf nutzen. Denkbar sind auch Ansätze, bei denen Bürgerinnen und Bürger direkt für bereitgestellte Daten bezahlt werden oder Daten für Leistungen ihrer Kasse freigeben. Im Mittelpunkt stehen aber immer die Patientinnen und Patienten, die individuell entscheiden, was mit ihren Gesundheitsdaten geschehen soll.

Warum treibt die Charité den Aufbau eines gemeinsamen Datenökosystems in der Branche voran?

Am Berlin Institute of Health an der Charité arbeiten wir unter Leitung von Prof. Dr. Roland Eils seit jeher daran, Forschungsergebnisse und neue Technologien in die medizinische Praxis zu übertragen. Das gilt auch für datenbasierte Lösungen. Wir haben also sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet. Dadurch verfügen wir auch über das nötige Netzwerk und nicht zuletzt: das nötige Vertrauen bei allen Beteiligten in der Branche. Niemand unterstellt uns einseitige wirtschaftliche Interessen an diesem Projekt.

Das „X“ gibt den Hinweis: Health-X ist Teil von Gaia-X. Warum suchen Sie den Anschluss an das europäische Cloud-Ökosystem?

Nicht einmal die deutsche Gesundheitsbranche mit jährlichen Ausgaben von mehr als 400 Milliarden Euro wäre groß genug, um im Alleingang Standards, Verfahren und Technologien für datenbasierte Dienste zu entwickeln. Selbst die deutsche Volkswirtschaft ist dafür zu klein. Wir leben und arbeiten in einem Binnenmarkt mit Hunderten Millionen Bürgerinnen und Bürgern und sind Teil der globalen Wirtschaft. Für das Datenzeitalter brauchen wir Rahmenbedingungen, die zumindest für ganz Europa gelten. Genau diesen Anspruch erhebt Gaia-X und basiert dabei auf den strengen europäischen Datenschutzstandards. Unsere Cloud-Plattform Health-X dataLOFT nutzt Standards, Referenz-Architektur und die Gaia-X Federation-Services. Auf diesem Fundament ist unser Datenraum für das Gesundheitswesen interoperabel mit anderen Datenräumen und ihren Akteuren.

Gaia-X stand in den letzten Monaten vermehrt in der Kritik. Welche Erfolgsaussichten sehen Sie für den Versuch, europäische Regeln für das Datenzeitalter durchzusetzen?

Ich bin da optimistisch. Wenn man bei Gaia-X aktiv ist, sieht man, dass neunzig Prozent der Teilnehmenden keine Förderung erhalten oder beantragen und ihre Projekte trotzdem mit großem Engagement vorantreiben. Fördergelder sind nicht der einzige Motivator. Außerdem hat das Wirtschaftsministerium mit 230 Millionen Euro sehr viel investiert. Die zweite, ausgefallene Tranche war ungleich geringer als die erste. Ich stelle dagegen fest, dass das Momentum für Gaia-X stetig zunimmt.

Herr Wagener, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Andreas Weiss & Thomas Sprenger


Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu

Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.

Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.

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