Im Interview mit Helko Lehmann, Director of Innovation, IMC AG
Wie das Gesundheitssystem kämpft unser Bildungswesen bei der Digitalisierung gegen zahllose Hürden. Im Interview erklärt Konsortialleiter Helko Lehmann, wie das Gaia-X-Förderprojekt MERLOT einen geschützten Datenraum für die Bildung entwickelt und es dabei mit Datensilos, veralteter Infrastruktur und Bürokratie aufnimmt.
Herr Lehmann, welche Verbindung hat Ihr Projekt zu Gaia-X?
Wir sind eines von elf Projekten, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz im Rahmen seines Gaia-X-Wettbewerbs fördert. Zusammen mit anderen Gruppen in ganz Europa arbeiten wir am Aufbau von Datenräumen für ein kommendes europäisches Datenökosystem. Unser Projekt MERLOT konzentriert sich auf die Digitalisierung des Bildungswesens. Bis Ende 2024 erarbeiten wir eine Machbarkeitsstudie für einen sicheren Bildungsdatenraum.
Wer gehört zu Ihrem Projekt?
Wir sind ein breit gefächertes Entwicklungskonsortium von Partnern aus IT-Wirtschaft, Verbänden, Beratungen, Hochschulen und Bildungsinitiativen. Die Konsortialführung für MERLOT hat die zur Scheer Holding gehörige imc AG. Weitere Konsortialpartner sind: Das August-Wilhelm Scheer Institut und das Hasso-Plattner-Institut, die Hochschule Karlsruhe und die TU Kaiserslautern, IONOS und die International Dataspaces Association, Dataport, edu-sense, M.I.T. und bit media sowie Schülerkarriere.
Wofür steht MERLOT und woran arbeiten Sie konkret?
Auf jeden Fall suchen wir nicht nach neuen Weinsorten! (lacht) MERLOT ist ein Buchstabenwort und steht für MarkEtplace foR LifelOng educaTional dataspaces and smart service provisioning. Wir entwickeln den Prototypen für einen B2B-Marktplatz, der Bildungsdaten und digitale Dienste bereitstellt. Solche Smart Services sollen Lernende bei der Bildungs- und Berufsorientierung unterstützen und Bürger:innen beim lebenslangen Lernen begleiten.
Was bedeutet B2B-Marktplatz? Und was sind Ihre Ziele?
Unser Marktplatz ist eine Business-to-Business-Lösung und richtet sich nicht an Endanwender:innen, sondern an Unternehmen und Bildungseinrichtungen. Sie tauschen darüber Daten aus und vermarkten zugleich Smart Services wie zum Beispiel KI-Assistenten. Für diesen Zweck wollen wir einen Datenraum schaffen, der digitale Bildungsdaten erstmals datenschutzkonform und im breiten Umfang verfügbar macht. Unser Ziel ist es, dass Menschen datengestützte Entscheidungen für ihren Bildungsweg treffen können, ohne dafür die Kontrolle über ihre persönlichen Daten an Dritte abzugeben.
Warum sind Daten so wichtig für unser Bildungssystem?
In Zukunft wird eine einzige Ausbildung nicht mehr für ein ganzes Berufsleben ausreichen: Eine 18-Jährige muss damit rechnen, sich bis zu ihrer Rente beruflich mehrfach neu zu erfinden – und sich dafür jedes Mal aufs Neue zu qualifizieren. Aber welcher Pfad ist der richtige für sie? Noten sagen viel zu wenig über uns aus. Wie können Bildungseinrichtungen Lernende bei solchen Entscheidungen fundierter beraten? Wie können Unternehmen durch datenbasierte Personalentwicklung Mitarbeitende effektiver qualifizieren? Wir brauchen mehr und vor allem genauere Informationen!
Warum sind nur so wenige Bildungsdaten überhaupt digital verfügbar?
Wenn Sie auf ihren Bildungs- und Berufsweg schauen: Wie viele Daten sind Ihnen im Laufe der Jahre geblieben? Vermutlich kaum mehr als ein zusammengestückeltes PDF aus ein paar Zeugnissen, Zertifikaten und Referenzen! Und das sind nicht einmal echte digitale Bildungszertifikate, denn die gibt es noch gar nicht. Noten, Schulleistungen und Beurteilungen werden in der Regel digital erfasst – aber nur lokal gespeichert. Unsere Bildungs- und Karrieredaten sind fragmentiert und verteilen sich auf unzählige Datensilos. Der zurecht strenge Datenschutz, unterschiedliche Datenformate und veraltete Technik erschweren den Datenaustausch. Und mit jeder neuen Ausbildungsstation, jedem neuen Arbeitgeber entstehen neue Silos. Aber eben kein tiefenscharfes Gesamtbild.
Wie will MERLOT das ändern?
Überwall werden Bildungsdaten gespeichert. Aber niemand traut sich, sie zu vernetzen. Was fehlt ist eine Infrastruktur für den übergreifenden und datenschutzkonformen Datenaustausch. Stellen Sie sich vor, ein KI-Assistent könnte auf die Daten Ihrer Karrierestationen zugreifen und Ihnen spezifische Vorschläge für ihren Ausbildungs- und Berufsweg unterbreiten. Sie behalten dabei jederzeit die Kontrolle über Ihre persönlichen Daten. MERLOT entwickelt zentrale Bausteine für eine derartige Dateninfrastruktur. Unser Marktplatz bringt Anbieter und Nutzer:innen von Daten und Diensten zusammen.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Sagen wir, ein Unternehmen sucht Teilnehmer:innen für einen dualen Studiengang. Die Firma möchte ihr Ausbildungsangebot aber nicht pauschal veröffentlichen. Stattdessen stellt sie ihre Daten lieber für einen präzisen Abgleich mit den erfolgversprechendsten Kandidat:innen bereit. Über eine Schnittstelle des Marktplatzes gewährt ein Vertragspartner dem Suchalgorithmus Zugriff auf Daten infrage kommender Lernender. Beide Datengeber beschränken den Zugang zu ihren Daten auf ein Minimum, ohne dass sie auf Plattformen Dritter gespeichert werden müssen. Die Schüler:innen profitieren von persönlicheren und fundierteren Angeboten, die Firma mit dem Studienangebot bekommt Kontakt zu qualifizierteren Bewerber:innen.
Wie funktioniert das technisch?
Dreh- und Angelpunkt von MERLOT ist unser Bildungsmarktplatz. Um Vertrauenswürdigkeit und Datenschutz zu gewährleisten, müssen sich Teilnehmer dort authentifizieren. Ein Katalog mit standardisierten Beschreibungen für Datenpakete und Dienste sorgt für Marktübersicht. Digitale Verträge und eine Rechteverwaltung regeln präzise, wozu, auf welche Weise und wie lange Daten verarbeitet werden dürfen. Geplant ist auch der Einsatz einer Wallet-App, über die Endanwender:innen ihre Daten gezielt freigeben, ihre Verwendung überwachen und ihre Zustimmung gegebenenfalls auch wieder entziehen können.
Welche Rolle spielen dabei Gaia-X und die Gaia-X Federation Services?
Gaia-X und die Gaia-X Federation Services (GXFS) liefern die Standards, Verfahren und technischen Bausteine für ein europäisches Ökosystem von Datenräumen. Zudem sorgen sie für die nötige Interoperabilität. Datenräume wirken nicht nur nach innen, indem sie den Datenaustausch etwa in einer Branche standardisieren und regeln. Für Wertschöpfung und Wachstum müssen auch verschiedene Datenräume untereinander interoperabel sein. In der europäischen Digitalwirtschaft macht es keinen Sinn, wenn jede Branche das Rad neu erfindet. Gaia-X und die GXFS legen das Fundament für ein übergreifendes Datenökosystem.
Welche GXFS-Komponenten setzen Sie bei MERLOT ein?
Eine Schlüsselrolle im aktuellen Projektstadium spielt der Föderierte Katalog der GXFS: Er schafft überhaupt erst die nötige Markttransparenz in einem künftigen Datenraum für das Bildungswesen. Wenn Sie bisher externe Daten nutzen wollten, zum Beispiel für eine KI-Anwendung, wussten sie nicht, wer solche Daten überhaupt anbietet. Im MERLOT-Katalog können Sie Datenquellen und Datenservices sogar anhand definierter Service-Attribute und Nutzungsbedingungen recherchieren. Standardisierte Beschreibungen sorgen dafür, dass die unterschiedlichen Angebote vergleichbar sind. Ein Novum im Bildungssektor.
Wie gut passen die GXFS zu Ihrem Bedarf?
Die GXFS sind ein Framework, das heißt, sie liefern technische Grundbausteine, aus denen die Projekte fertige Lösungen bauen. Wir nutzen aktuell den GXFS-Code für den föderierten Katalog. Ebenso haben wir die Selbstbeschreibungen und das Self-Signing der GXFS übernommen und passen sie an unsere Bedürfnisse und die von uns entwickelte Benutzeroberfläche an. Dabei versuchen wir möglichst wenig zu verändern, damit unsere Lösung mit späteren Versionen der GXFS kompatibel bleibt, Stichwort Release-Fähigkeit.
Auf dem GXFS-Tech-Workshop in Braunschweig haben Sie erste Einblicke in Ihren Marktplatz gegeben. Was haben Sie präsentiert und wo stehen Sie aktuell im Projekt?
Wir freuen uns, dass wir den anwesenden und zugeschalteten Entwickler:innen das Portal für unseren Marktplatz sowie die Benutzeroberfläche für die Selbstbeschreibungen und einen vereinfachten Authentifizierungsprozess zeigen konnten. Wir setzen derzeit auf eine klassische Authentifizierung mit Keycloak im Hintergrund. Später wollen wir auch hierfür Codebausteine aus dem GXFS-Framework nutzen.
Spannend zu sehen war, wie Anbieter und Nachfragende die finalen Serviceattribute für einen Dienst aushandeln und dann in einem Vertrag niederschreiben. Auf unserem Marktplatz werden keine fertigen Standardprodukte gehandelt. Sie müssen immer erst an den Bedarf der Kunden angepasst werden, etwa welchen Umfang ein Datenpaket hat oder in welchem Format die Daten geliefert werden sollen. Dazu erlaubt der Marktplatz, Produkteigenschaften von Servicebausteinen oder Datenpaketen zu vererben, also gewissermaßen zu klonen und dann für den konkreten Einsatzzweck anzupassen. Das Ergebnis wird schließlich in einen digitalen Vertrag geschrieben. Das Vererben der Serviceattribute vereinfacht und beschleunigt das Verfahren.
Was sind Ihre nächsten Baustellen?
Den ersten Proof of Concept haben wir fertig. Er erlaubt auf Knopfdruck eine Transaktion von Anbieter:in zu Nutzer:in, Angebotserstellung, Vertragsverhandlung und -abschluss. Die nächsten Arbeitspakete umfassen die Implementierung einer Self-Sovereign Identity (SSI), den Aufbau des Consent Managements (als Basis der vorher genannten Wallet-App) und die Umsetzung des Contractings mit dem GXFS-Code.
Herr Lehmann, vielen Dank für das Gespräch.
Andreas Weiss & Thomas Sprenger
Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu
Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.de führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.
Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Geschäftsführer bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.