Im Interview mit Dr. Shalini Sahoo, wissenschaftliche Leiterin bei der Bechtle AG
Was ist nötig, damit wir einer digitalisierten Verwaltung vertrauen? Nach Ansicht der Designerin und Philosophin Dr. Shalini Sahoo müssen Bürgerinnen und Bürger erleben, dass sie ihre Daten kontrollieren, statt umgekehrt. Als wissenschaftliche Leiterin bei der Bechtle AG arbeitet sie zusammen mit sechs Partnerunternehmen am Projekt POSSIBLE, das einen Gaia-X-Datenraum und Produktivitätslösungen für Behörden, den Bildungssektor und mittelständische Unternehmen entwickelt. Im Interview verrät sie, wie die GXFS die Gaia-X-Förderprojekte in ihrer Pionierarbeit unterstützen und warum es digitale Souveränität nicht zum Nulltarif geben kann.
Shalini, du hast in London am Royal College of Art Design studiert und dort zum Thema Intelligent-Mobility promoviert. Für deine Doktorarbeit hast du Ansätze für eine harmonische Interaktion von Menschen und digitalen Ökosystemen entwickelt. Eines deiner Forschungsobjekte waren Stadtbahnen. Was haben digitale Oberflächen im Nahverkehr mit Verwaltungslösungen gemein?
Es ist die Art und Weise, mit der wir Technik entwickeln, die wir alle benutzen und die unser Leben beeinflusst. Als Forscherin suche ich nach anwendungsreifen Lösungen, wie man ethische und übergeordnete politische Ziele in reale Dienstleistungen und Produkte einbettet. Ob du die Infosysteme in einer Stadtbahn oder elektronische Verwaltungsdienste souverän nutzen kannst, entscheidet, wie frei und autonom du dich in einer mehr und mehr digitalisierten Welt fühlst. Im schnellen Wandel sind es meist wir Menschen, die sich an die Technik anpassen müssen, statt umgekehrt. Am Beispiel der Künstlichen Intelligenz können wir beobachten, wie sich dadurch die Welt in wenige Eingeweihte und viele Unwissende teilt. Die Folge ist, dass zu viele den Einfluss der Technik als Schicksal hinnehmen müssen. Aber Technik darf dich nicht entmündigen.
Wie willst du das verhindern?
Jede Benutzeroberfläche repräsentiert eine Hypothese ihrer Erbauer, wie Menschen einen Apparat oder eine App verstehen und bedienen. Bei meiner Arbeit suche ich nach Methoden, wie wir solche Hypothesen evidenzbasiert, also auf Basis von Fakten stellen und iterativ verbessern können. Diese Fakten gewinnen wir durch das, was wir in der Wissenschaft einen systemischen Ansatz nennen.
Was verstehst du unter „systemisch“?
Entscheidend ist der Kontext, in dem wir Technik einsetzen. Will ich etwa einen digitalen Service für das Ausstellen des neuen Führerscheins in einem Amt einführen, in dem sonst fast alles analog arbeitet, dann muss ich das berücksichtigen! Sonst erzeugt der moderne Service zusätzliche Probleme, etwa weil ich Nachweisdokumente noch auf konventionellem Weg beischaffen muss. Und wir dürfen nicht nur auf Organisation und Abläufe schauen, sondern müssen uns ebenso in die einzelnen Menschen einfühlen: Welches Vorwissen hat eine Mitarbeiterin in der Verwaltung, welches hat die Bürgerin, die den Service benutzt? Hinzu kommt, dass diese Parameter sich laufend verändern. Wir visieren also ein bewegliches Ziel an.
Warum engagierst du dich in einem Förderprojekt für Gaia-X?
Gaia-X ist etwas Einmaliges. One of it’s kind, wie man in Großbritannien sagt: Es ist eine der ganz wenigen Technik-Initiativen, die zuerst ihre Werte reflektiert, bevor sie technische Entscheidungen trifft.
Welche Werte legt Gaia-X digitaler Technik zugrunde?
Das sind alles Grundsätze, die das Fundament unseres Zusammenlebens und menschlicher Kooperation ausmachen. Wenn ich alle auf eine Idee verdichte, dann ist es Vertrauen. Ohne Vertrauen gibt es keine persönliche Kontrolle, keine Souveränität und auch keine Kooperation. Vertrauen ist das Fundament jeder Datenökonomie.
Ist das nicht Wunschdenken?
Jahrelang brachten Internetmilliardäre wie Mark Zuckerberg Technik auf den Markt nach der Maxime: „Move fast and break things“. Heute müssen Gesellschaften diese Pioniere in einem mühseligen Prozess zu Fairness und Gesetzestreue zwingen. Solche Sisyphusarbeit endet niemals, solange wir Ethik immer erst nachrüsten. Wer sagt, dass wir nicht Technik entwickeln können, die vielen dient statt nur wenigen. Gewissermaßen Ethik-by-Design? Bei Gaia-X arbeiten hunderte Unternehmen mit daran, dass so etwas Wirklichkeit wird. Das macht mir so viel Hoffnung, dass wir endlich lernen, Technologie mit Reife und Weitsicht zu entwickeln.
Wie baut man Werte in Technik ein?
(lacht) Am besten gar nicht! Werte sollten schon im Konzept angelegt sein. Schließlich will ich mich darauf verlassen, dass der Schutz persönlicher Daten und Geschäftsgeheimnisse Teil des Bauplans digitaler Lösungen ist und kein Add-on, dass ihre Herausgeber nach Belieben wieder abschalten können. Ebenso wenig reicht es, dass dieser Schutzmechanismus irgendwo im Code oder einem Chip verborgen liegt. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen es im täglichen Umgang mit einer Technik erleben. Nur so entsteht ein Kontrollgefühl, wie wir Designer das nennen.
Woran arbeitet ihr bei eurem Gaia-X-Projekt POSSIBLE? Und wofür steht dieser Name?
POSSIBLE ist ein Akronym für „Phoenix Open Software Stack for Interoperable Engagement in Dataspaces“. Wir wollen die Digitalisierung von Büroprozessen für alle zugänglich machen. IT-Technik wird nicht erst seit gestern eingesetzt. Aber uns geht es um die nächste Entwicklungsstufe: um datenbasiertes Arbeiten und vor allem um datenbasierte Kooperation. In den nächsten Jahrzehnten werden Daten die Voraussetzung für Fortschritt und Wohlstand in Europa sein.
Was entwickelt ihr konkret?
Wir entwickeln ein Office-Paket für Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und mittelständische Unternehmen. Es basiert auf der dPhoenixSuite 3.0 von Dataport. Die Office-Suite umfasst Softwarewerkzeuge für E-Mail, Chat und Videokonferenzen. Dazu gehört auch ein Cloud-Service für Speicherplatz und eine Online-Sharing-Plattform für den Austausch von Dokumenten. Als Ergänzung zu Office entwickeln wir im Projekt eine Reihe von KI-basierten intelligenten Diensten. Unsere Software-Werkzeuge sind webbasiert, müssen also nicht mehr lokal installiert werden und liegen als Open-Source-Lizenz vor. Das heißt: Der Quellcode ist zugänglich, es gibt keine versteckten Hintertüren.
Wozu braucht es ein weiteres Office-Paket?
Bei Office-Paketen geht’s heute nicht mehr nur um individuelle Produktivität, sondern um Zusammenarbeit mit anderen. Wir entwickeln eine Open-Source-Lösung, die die Datensouveränität ihrer Nutzerinnen und Nutzer konsequent schützt und Kooperation in sicheren Datenräumen möglich macht. Besonders in den drei Domänen unseres Projekts, in der Verwaltung, im Bildungswesen und im Mittelstand gibt es zu Recht noch Datenschutzbedenken, Dritten den Zugriff auf interne Dokumente zu geben. Wir wollen das Vertrauen in digitale Kooperation stärken, damit unsere Zielbranchen von smarten Diensten profitieren und aktiv an der Datenwirtschaft teilhaben können.
Welche Rolle spielt Gaia-X hierbei?
Der Wunsch nach Datensouveränität treibt nicht nur unser Projekt an, sondern ist ein zentrales Merkmal von Gaia-X. Das Gaia-X-Ökosystem bietet den Vorteil einer Gemeinschaft, in der einander fremde Akteure Daten sicher miteinander teilen. Dabei ist Gaia-X die weltweit erste digitale Initiative, die die politische und die wirtschaftliche Ebene in diesem Ausmaß verbindet. Das Ziel von Gaia-X ist es, dass Datenräume unterschiedlicher Projekte und Branchen interoperabel sind, sofern sie sich gemeinsamen Prinzipien verschreiben. Ohne den Ansatz von Gaia-X bleiben viele Initiativen in ihren Funktions- und Datensilos isoliert. Daher bauen wir unser Projekt auf das Fundament dezentraler und souveräner Dateninfrastrukturen.
An POSSIBLE beteiligen sich neben dem Konsortialführer Bechtle sechs weitere Partnerunternehmen. Was tragen sie zum Projekt bei?
Die Firma Dataport liefert mit Phoenix das Office-Paket, über das wir vorhin gesprochen haben. Um die Entwicklung der Smart-Services kümmern sich das August-Wilhelm-Scheer-Institut (AWSi), die imc AG, ebenfalls aus der Scheer-Gruppe, sowie das Fraunhofer Institut für offene Kommunikationssysteme Fokus. Unser Partner Univention ist ein Open-Source-Pionier und steuert Server-Betriebssystem und Container-Technologie für den Betrieb unserer Cloud-Dienste bei. Der Internetprovider IONOS SE, der sich in vielen Gaia-X-Projekten engagiert, stellt die Cloud-Infrastruktur für unser Projekt zur Verfügung.
Worum handelt es sich bei den Smart-Services? Was leisten sie?
Aktuell arbeiten wir an dreien solcher Smart-Services:
- Piveau ist eine Datenmanagement-Plattform für den öffentlichen Sektor rund um Big Data, Data Sharing und Open Data. Die Fraunhofer-Entwicklung hilft Nutzerinnen und Nutzern beispielsweise, fundiertere Entscheidungen auf Basis von Daten zu treffen. Piveau bereitet solche Daten anschaulich in Dashboards auf. Ebenso setzen wir unseren föderalen Servicekatalog mit Piveau um.
- Unser Partner IMC steuert einen Smart Service für Lernmanagement bei. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz lassen sich Arbeitsabläufe und Bildungswege von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auswerten. Die KI gibt einen Ausblick, bei welchen Kompetenzen es in einer Organisation künftig Engpässe geben könnte und gibt Empfehlungen für Fortbildungen.
- Der dritte Smart Service stammt aus der Entwicklung von AWSi und bietet Werkzeuge für Desktop Activity Mining, das heißt zur Analyse und Optimierung von Organisationsprozessen. Ein wichtiger Ansatz ist dabei die Dokumentation von Aufgaben und Arbeitsabläufen, um implizites Wissen offenzulegen. So finden sich neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim Onboarding schneller zurecht, ebenso lassen sich Arbeitsschritte einfacher automatisieren.
Wie setzt ihr bei POSSIBLE die Gaia-X Federation Services ein?
POSSIBLE ist eine Referenzimplementierung von Gaia-X. Das heißt, wir erfüllen die Vorgaben des Gaia-X-Ökosystems, testen, geben Feedback und nutzen die GXFS-Codebausteine, wo es für uns Sinn ergibt. Für den Anfang befassen wir uns mit den Komponenten für die Selbstbeschreibungen. Bei der Implementierung hakte es zuerst: Die Dokumentation könnte verständlicher sein. Ein eigener Workshop für Selbstbeschreibungen war hilfreich, kam aber etwas spät. Für den föderierten Katalog nutzen wir, wie zuvor erwähnt, das Piveau-System der Fraunhofer. In den nächsten Wochen entscheiden wir, welche GXFS-Komponenten wir als Nächstes einsetzen. Generell sind die GXFS der richtige Ansatz und die adäquate Technologie für Aufbau und Management von Föderationen. Wir sind froh, dass der Code jetzt zur Verfügung steht, wenn die Förderprojekte in die Umsetzung gehen.
Wie schätzt ihr den Reifegrad der GXFS für euer Projekt ein?
Die GXFS liefern wichtige Werkzeuge und ein Framework mit einer ersten Codebasis. Der eco-Verband und die GXFS haben den ersten Wurf gut hinbekommen. Klar gibt es auch Kritik aus der Community. Aber man muss verstehen, dass es um neue Technologie geht, also darum zu experimentieren und zu lernen. Das ist vielleicht auch eine Frage der Mentalität. Von meiner Arbeit am MIT in den USA bin ich eine andere Bereitschaft zum Risiko, zu technischen Experimenten gewohnt. Damit tun wir uns in Europa und in Deutschland mitunter noch schwer. Das ist schließlich die Aufgabe der Gaia-X-Förderprojekte: Wir entwickeln, testen und verbessern. Das ist Pioniergebiet. Nach Veröffentlichung der GXFS müssen jetzt die Förderprojekte und Projektpartner ihren Beitrag leisten. Wir können keine verkaufsfertigen Lösungen erwarten. Digitale Souveränität gibt es nicht zum Nulltarif.
Dr. Shalini, vielen Dank für das Gespräch!
Andreas Weiss & Thomas Sprenger
Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu
Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.
Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.