Dieser Governance-Prozess ist weltweit einzigartig

Im Interview mit Andreas Baur, Politikwissenschaftler

Andreas Baur forscht in Tübingen und Amsterdam zu den (geo-)politischen Rahmenbedingen für die Cloud. Der Politikwissenschaftler ist überzeugt: Technikferne Regulierung taugt nichts. Im Interview verrät er, wie politische Konzepte in Technik eingebettet werden und warum Initiativen wie Gaia-X eine neue Form internationaler Technopolitik repräsentieren.

Herr Baur, Sie sind Politikwissenschaftler und forschen zu kritischen Netzinfrastrukturen. Auch die Cloud und Initiativen wie Gaia-X sind Ihr Thema. Womit befassen Sie sich aktuell?

Derzeit promoviere ich zu den Politiken der Cloud am Zentrum für soziale Studien der Universität Amsterdam. Daneben bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Uni Tübingen und Mitglied im Forum Privatheit. Dort befassen wir uns in verschiedenen Projekten mit der Sicherheit von Infrastrukturen und Themen wie Privatheit und Datenschutz.

Was interessiert Sie als Politologe an IT-Infrastrukturen?

Technik ist politisch. Sie ermöglicht, beeinflusst oder verhindert Handeln. Ein Beispiel: Wir haben eine Studie durchgeführt über automatisierte Sicherheitsentscheidungen an Flughäfen. Die Ergebnisse zeigen: Wenn Technik entscheidet, tut sie das nie neutral, weil sie nach den Maßstäben ihrer Erbauer funktioniert – nur eben vielfach verstärkt. Denn digitale Technik skaliert durch Automation menschliche Wirksamkeit und potenziert damit auch programmierte Vor- und Fehlurteile. Wir müssen verhindern, dass unsere Technik nicht dauernd zum Turbolader unserer Schwächen wird.

Was macht die Cloud zum Politikum?

Bei der Cloud ist die Akteursqualität, wie wir das nennen, besonders groß: Wir haben es hier nicht nur mit ein paar Apparaten zu tun, sondern mit einer vernetzten und globalen Infrastruktur. Damit ist sie Grundlage für viele weitere Technologien. Sie beeinflusst die Kooperationsfähigkeit von Milliarden Menschen. Wir alle brauchen die Cloud, um auf Daten zuzugreifen, sie zu verarbeiten und mit anderen auszutauschen. Aber die Cloud hat einen Ort und einen Rechtsstatus. Damit unterliegt sie dem Zugriff nicht nur von Unternehmen, sondern auch von Staaten, in deren Rechtsgebiet die Rechenzentren operieren. Die Cloud ist zum geostrategischen Asset geworden.

Wie macht sich Geostrategie in der Cloud bemerkbar?

Vereinfacht gesagt: Autoritäre Staaten wie Russland oder China setzen auf Abschottung und Datenkontrolle innerhalb ihrer Territorien. Die USA vertrauen dagegen eher auf radikale Meinungsfreiheit und zugleich kapitalistisch freizügige Vermarktung von Daten.  Europa versucht immer mehr einen dritten Weg zu verfolgen: Wir wünschen uns eine stärkere rechtsstaatliche Kontrolle von Plattformen und mehr Schutz der individuellen Privatsphäre.

Welche Probleme verursachen widersprüchliche Geostrategien in der Cloud?

Europa will zwar seine Interessen und Werte in der Cloud wahren. Allerdings sind wir abhängig von nicht-europäischer Technologie und müssen die weitreichende Überwachung unseres Datenverkehrs durch z.B. US-Geheimdienste hinnehmen. Schon vor zehn Jahren offenbarte der Whistleblower Edward Snowden in der NSA-Affäre, mit welchen Bandagen hier gekämpft wird. Das ist einer der Gründe, warum europäische Unternehmen seit Jahren die marktbeherrschenden US-Plattformen nur unter hohen Rechtsrisiken nutzen können. Neben dem Zugriff der Geheimdienste gibt es in der Cloud noch viele weitere geostrategische Faktoren, wie Zugriff auf Mikrochips, die Verfügbarkeit kognitiver Ressourcen wie Innovationsfähigkeit, Patente, Fachkräfte, aber auch Marktanteile und Zugang zu bezahlbarer und grüner Energie. Wer hier den Anschluss verliert und in Abhängigkeit gerät, büßt politische Souveränität ein.

Wegen solcher Abhängigkeiten sprechen die EU und europäische Regierungen von einem Marktversagen in der Cloud. Wie bewerten Sie das?

Ich bin kein Ökonom. Aber Marktversagen zeigt sich beispielsweise durch starke Machtungleichgewichte. Die sind im Cloud-Markt offensichtlich. Heute teilt eine Handvoll von Plattformunternehmen den Markt unter sich auf. Mit jedem weiteren Kunden profitieren sie von Netzwerkeffekten, die ihre Dominanz festigen. Die Hyperscaler setzen De-facto-Standards und bestimmen den Zugang zu Cloud-Ressourcen. Ihr Einfluss ist groß genug, dass sie sogar den Datenaustausch zwischen verschiedenen Plattformen begrenzen. Initiativen wie Gaia-X versuchen eine alternative Vision auf diese Entwicklung voranzubringen. Sie wollen Standards und Spielregeln für die Cloud dem Einzelinteresse von Unternehmen entziehen und die geostrategische Agenda außereuropäischer Mächte ausgleichen.

Im Kontext von Gaia-X ist die Rede von Datensouveränität. Wie ist die Sicht des Politikwissenschaftlers darauf?

Ich halte es für bemerkenswert, dass Souveränität im digitalen Wandel plötzlich eine solche Rolle spielt. Der Begriff Souveränität ist sehr alt. Er stammt aus der traditionellen politischen Reflexion und wird jetzt angewendet auf moderne Technologie. Der Begriff Datensouveränität zeigt, wie sehr Daten im 21. Jahrhundert zum Schlüssel für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Einzelnen und Kollektiven werden – und zugleich zur politischen Herausforderung. In meiner Doktorarbeit untersuche ich, wie sich diese klassischen Konzepte wie Souveränität im techno-politischen Kontext der Cloud wandeln und angewendet werden. Teilweise wird versucht, solche politischen Ideen technisch umzusetzen. So verbindet sich die Vision einer nicht-territorialen Cloud plötzlich mit einer Idee, die stark an territoriale Grenzen und Abgrenzung gebunden ist.

Warum fällt es Politik so schwer, Technikfolgen einzuhegen?

Die Probleme, von denen wir sprechen, entstehen im Wechselspiel zwischen Technik und Gesellschaft bzw. Politik, denn Soziales und Technologien wirken ineinander und aufeinander. Deshalb lassen sich diese Probleme aber nicht allein durch Technik wie schnellere Chips, Verschlüsselung oder smartere Algorithmen lösen. Ebenso wenig lassen sie sich allein durch Eingriffe von außen lösen, etwa durch Gesetze, die eine bestimmte Anwendung von Technik verbieten oder regulieren. Mich fasziniert die Frage nach dem Zusammenspiel: Wie lassen sich politische Konzepte in Technik einbetten? In den Sozialwissenschaften sprechen wir von technopolitischen Lösungen.

Was verstehen Sie unter technopolitischen Lösungen?

Da Technik selbst handlungsleitende Macht hat, ist auch ihre Ausgestaltung von großer Relevanz. Am Ende geht es um die Frage, wie gute Governance in diesem Wechselspiel zwischen Regulierung und Technikgestaltung aussehen kann. Das geht nicht ohne technischen Sachverstand. Technikferne Regulierung taugt nichts. Gute Regeln dagegen machen ein System erst funktionsfähig. Dazu muss man auch schon bei der Technikentwicklung vom Ende her denken. Wir nennen das auch Technikfolgenabschätzung.

Wie lässt sich Technopolitik auf die Cloud anwenden?

Initiativen wie Gaia-X betrachten Politik und Technik nicht als voneinander getrennte Sphären, sondern als notwendige Komponenten für neue Lösungen. Dabei geht es nicht nur um technische Standards. Tatsächlich geht die Vision von Gaia-X – wir aus den Sozialwissenschaften sprechen auch von so genannten soziotechnischen Imaginaries – darüber hinaus: Die Initiative will ein Ökosystem von Cloud-Diensten in Europa schaffen, das Regulierung weniger durch Zwang als vielmehr durch Anreize denkt. Ich beobachte, dass Privatsphärenschutz, Datensouveränität, Interoperabilität und Markttransparenz als starke Argumente für die Teilnahme an einem solchen Ökosystem gelten. Nicht nur für die Kunden, auch etwa für mittelständische und spezialisierte Dienstleister, die sich im Cloud-Markt bisher schwertun. In den Gesprächen mit Initiatoren und Teilnehmerunternehmen ist diese Vision sehr präsent. Solche gemeinsamen Visionen sind sehr mächtig und können politisch Berge versetzen und Konflikte ausgleichen.

Wie würden Sie die Rolle von Gaia-X im Cloud-Markt beschreiben?

So wie das Internet als Netzwerk von Netzwerken entwickelt wurde, erscheint mir Gaia-X als eine Cloud der Clouds, die im Erfolgsfall zu einem europaweiten Ökosystem anwächst. Jetzt in der Anfangsphase lässt sich Gaia-X vielleicht am besten mit dem Begriff „honest broker“ oder „ehrlicher Makler“ umschreiben: Zum Beispiel geben die Gaia-X-Katalogdienste Anwenderunternehmen nachvollziehbare Kriterien an die Hand, um Cloud-Dienste zu vergleichen. Durch den Versuch, Transparenz in Prozesse einzuschreiben, können Gaia-X-Föderationen mithilfe ihrer Kataloge bestimmte Servicequalitäten verbürgen. Vertrauen ist ein sozialer Wert, der hier durch Technik und Praxis unterstützt werden soll.

Kann eine internationale Initiative technische Entwicklung wirksam lenken?

Dafür gibt es sogar historische Vorbilder: Ein häufig vergessenes Beispiel ist die International Telecommunications Union, kurz ITU. Die Fernmeldeunion ist eine Sonderorganisation der UNO mit Sitz in Genf, die einen völkerrechtlichen Status genießt. Sie ist die einzige ihrer Art, die sich um verbindliche Telekommunikations-Standards und Regeln für die ganze Welt kümmert, etwa für die Nutzung von Frequenzen oder Ländercodes bei Telefonnummern. Trotzdem sind solche Institutionen, selbst in unserer hoch vernetzten Welt, immer noch eine Ausnahme.

Was macht internationale Ansätze wie die ITU zum Vorbild?

Nur auf solchen Plattformen wie die der ITU oder vielleicht auch in Multistakeholder-Ansätzen lassen sich Fragen diskutieren, wie wir Technik weltweit so organisieren, dass möglichst viele von ihr profitieren. In der Fernmeldeunion der UNO wurde auch viel über das Internet als globale Infrastruktur gestritten. Wir Politologen finden solche Institutionen interessant wegen der Interessenkonflikte, die auf ihrer Bühne sichtbar und produktiv gelöst werden. Bei der ITU hat sich seinerzeit das marktoffene, US-amerikanische Internetprotokoll durchgesetzt gegen die staatsmonopolistischen Ansätze aus Europa wie das deutsche BTX oder das französische Minitel.

Im Unterschied zur ITU ist Gaia-X eine private Initiative trotz staatlicher Unterstützung. Lassen sich beide Organisationen miteinander vergleichen?

Gaia-X ist tatsächlich ungewöhnlich, weil die Initiative organisatorisch neue Wege erschließt. Es gibt zwar einen gemeinnützigen Verein als Zentralverband in Brüssel. Aber die Gaia-X European Association for Data and Cloud AISBL ist keine Agentur der EU-Kommission. Gaia-X ist in erster Linie eine Vereinigung von Wirtschaft und Forschung.

Wie lassen sich die unterschiedlichen Interessen in Europa unter einen Hut bringen?

Gaia-X ist keine konventionelle Form der Selbstregulierung in einem x-beliebigen Markt: In seiner Form ist die Initiative ein typisch europäisches Gewächs, mit vielen Vor- und Nachteilen der europäischen Tradition der Kompromissfindung und des Ausgleichs. Meinungsbildung wird anspruchsvoll organisiert: So ist Gaia-X weder ausschließlich zentral noch dezentral aufgestellt, sondern beides. Viele Unternehmen sind nicht Mitglied des Zentralverbands in Brüssel, engagieren sich aber in den nationalen Hubs der Initiative, die eng mit der AISBL kooperieren, ohne ein institutioneller Teil von ihr zu sein. Die Initiative handelt koordiniert. Zugleich ist sie stark vernetzt in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. In dieser Komplexität ist das Gebilde natürlich abhängig von den verschiedenen Anforderungen der unterschiedlichen Volkswirtschaften der Union. Dieser Governance-Prozess ist weltweit einzigartig. Allerdings muss er auch Widerhall finden in der Zivilgesellschaft.

Zweifeln Sie an der öffentlichen Akzeptanz für ein europäisches Datenökosystem?

Die Einbindung der Zivilgesellschaft ist für Initiativen wie Gaia-X keine Kleinigkeit. Ihr Anliegen ist technisch kompliziert und trocken, Meinungsbildung und Interessenausgleich unter den Teilnehmerorganisationen anstrengend. Also kein Thema für Talkshows, obwohl es großen Einfluss auf unseren Alltag und unsere Zukunftsfähigkeit in Europa haben wird. Regeln für Datenökosysteme gehen weit über wirtschaftliche Interessen hinaus. Letztlich können alle zivilgesellschaftlichen Bereiche profitieren. Tatsächlich betreiben die Akteure der Initiative großen Kommunikationsaufwand, der sich aber noch stark an ein Fachpublikum richtet. Die Anliegen von Gaia-X müssten noch mehr in die breite Öffentlichkeit getragen werden und gleichzeitig sollten gute Möglichkeiten der Einbindung geschaffen werden.

Herr Baur, wir danken Ihnen für das Gespräch.


Andreas Weiss & Thomas Sprenger


Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu

Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.

Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.

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