Cloud Computing hat die dezentrale Idee des Internets ins Gegenteil verkehrt

Im Interview mit Peter Kraemer, Leiter Gaia-X Hub Deutschland

Peter Kraemer leitet einen der wichtigsten Knotenpunkte im entstehenden Datenökosystem für Europa: den Gaia-X Hub Deutschland. Der studierte Sinologe, der neben Englisch auch fließend Chinesisch spricht, arbeitet für die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) in München, einem öffentlich geförderten Thinktank, der das Bundeswirtschaftsministerium von Beginn an bei Gaia-X unterstützt. Mit seinem Team von derzeit 14 Mitarbeitenden unterstützt Kraemer Gaia-X-Projekte in Deutschland in ihrer Entstehung. Im Interview verrät er, warum die Anwenderunternehmen und -branchen eine so wichtige Rolle bei Gaia-X spielen.

Herr Kraemer, wie sind die nationalen Hubs in der Gaia-X-Initiative verortet?

Die Gaia-X-Initiative wird heute von zwei Organisationsbereichen getragen: der Gaia-X Association und den Gaia-X Hubs. Die Gaia-X Association for Data and Cloud in Brüssel bildet den institutionellen Kern von Gaia-X und wurde Anfang 2021 als internationaler gemeinnütziger Verein nach belgischem Recht gegründet. Als ‚Gralshüterin‘ definiert sie die Standards, Regeln sowie die Referenz-Architektur für künftige Cloud-Infrastrukturen nach dem Gaia-X-Muster. Außerdem orchestriert sie die Entwicklung der dazu nötigen Basis-Technologien.

Den zweiten Bereich bilden die Mitgliedsunternehmen bei Gaia-X. Sie organisieren sich in nationalen Hubs. Hier laufen die Pilotprojekte verschiedener Branchen und Datenökosysteme zusammen. Und hier ermitteln wir, welche konkreten Bedarfe, die Unternehmen für ihre Projekte in Gaia-X sehen. Diese gleichen wir mit den übrigen Hubs ab und reichen sie bei der Gaia-X-Association in Brüssel ein.

Wenn sich Gaia-X als europaweite Initiative versteht: Warum organisieren sich die Anwender auf nationaler Ebene?

Jedem Mitgliedsland ist es zunächst einmal wichtig, dass sich seine Anwenderlandschaft in der Initiative wiederfindet. Das können Sie in Europa nicht zentral managen. Das muss man föderieren, wie wir das nennen. Die einzelnen Länder in der EU unterscheiden sich ganz massiv in der Charakteristik ihrer Unternehmen. Was in Deutschland der Mittelstand mit seinen Hidden Champions, den Weltmarktführern in industriellen Nischen ist, sind in Frankreich Großkonzerne. Daraus leiten sich auch unterschiedliche Anforderungen an Cloud-Dienste ab. Folgerichtig haben wir 2020 bei acatech als Berater:innen des Bundeswirtschaftsministeriums das Konzept der Hubs entwickelt.

Welche Aufgaben hat der Gaia-X Hub Deutschland?

Vor allem drei:

Erstens sind wir zentrale Anlaufstelle für alle interessierten Unternehmen, Organisationen, Expert:innen und Journalist:innen in Deutschland. Für den mittelständischen Maschinenbauer aus Ostwestfalen-Lippe beispielsweise ist die Hemmschwelle, zum Telefon zu greifen und eine Münchner Vorwahl anzurufen, niedriger, als in Brüssel rauszukommen. Dort nimmt vielleicht jemand das Gespräch entgegen, der im schlimmsten Falle die Sprache nicht spricht und nur sehr oberflächlich die Probleme versteht, mit denen sich das Unternehmen im digitalen Wandel regulativ, strukturell und technologisch plagt.

Dazu gehört auch eine Navigationsfunktion: Wir erklären Interessierten, worum es bei Gaia-X geht und wie man sich einbringen kann. Dann helfen wir ihnen, die passenden Kontakte und Arbeitsgruppen für ihren Bedarf zu finden.

Zweitens haben wir den Markt im Blick. Wir identifizieren verwandte Initiativen, die Schnittmengen mit den Zielen von Gaia-X haben, und vernetzen sie untereinander. Das gilt gleichermaßen für öffentlich geförderte wie für privatwirtschaftliche Projekte. Zum Beispiel sollte das vom Bundesforschungsministerium geförderte Gauss Center for Supercomputing zumindest über Gaia-X Bescheid wissen, besser noch mitmachen. Gleiches gilt für die nationale Forschungsdateninfrastruktur oder die nationale Bildungsplattform oder die diversen KI-Initiativen in den Ministerien.

Diese Aufgabe setzt fundierte Kenntnisse der nationalen Projektlandschaft voraus und könnte darum nicht zentral von Brüssel aus gesteuert werden. Dafür braucht es nationale Hubs.

Wie entstehen daraus handfeste Mehrwerte?

Das ist unsere dritte und anspruchsvollste Aufgabe. Es geht um konkreten Nutzen durch den Einsatz von Gaia-X. Dazu gehören selbstredend wirtschaftliche Mehrwerte für Unternehmen, aber ebenso Fortschritte in der Forschung, bei Verwaltungsprozessen, im Gesundheitswesen oder im Alltag von Bürger:innen, etwa durch einfacheren Zugriff auf digitale Dienste.

Ein einseitig zentralistischer Ansatz durch Vorgabe von Standards, Regeln und bestimmten Technologien aus Brüssel ist hier nicht die Lösung. Die digitale Transformation unserer Gesellschaften ist ein Pioniergebiet. Wir müssen in der Praxis erst herausfinden, wohin wir wollen, was wir dazu brauchen und wie das alles am besten zusammenwirkt. Dazu brauchen wir diejenigen, die mit diesen Technologien später leben und arbeiten müssen: die Anwender.

Das heißt, die nationalen Hubs sammeln die Anforderungen aus den Branchen?

Anforderungen einfach abzufragen, führt nicht zum Ziel. Wir müssen erst einmal ein gemeinsames Verständnis für Probleme und verfügbare Technologien entwickeln. Um eine informierte Basis herzustellen, organisieren wir uns im deutschen Hub derzeit in zehn Arbeitsgruppen. Dabei orientieren wir uns nach dem Vorbild der europäischen Datenstrategie an den großen Transformationsthemen und Branchen. Zum Beispiel datengestützte Landwirtschaft, Energiesysteme, vernetzte Mobilität, Smart Cities & Regions, vernetzte Industrieproduktion, Gesundheitswesen und Telemedizin, digitale Verwaltung und so weiter.

In diesen Arbeitsgruppen treffen sich regelmäßig alle Mitglieder, die Gaia-X und die daraus entstehenden Technologien und Standards nutzen wollen. Ihr Ziel ist es, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln oder vorhandene digitale Dienste zu verbessern.

Unser wichtigster Zugang dazu sind aktuell elf Vorhaben aus dem Gaia-X-Förderwettbewerb des Wirtschaftsministeriums, die wir intensiv begleiten. Anhand dieser Fallbeispiele sehen wir in der Praxis, wie Gaia-X genutzt werden kann, welche bestehenden Technologien wir für ein transparentes, faires und souveränes Datenökosystem brauchen und wo noch neue Lösungen entwickelt werden müssen.

Wozu müssen die Europäer:innen diesen Aufwand betreiben, wenn andernorts bereits leistungsfähige und erfolgreiche Cloud-Infrastrukturen verfügbar sind?

Cloud Computing, wie wir es heute kennen, hat die dezentrale Idee des Internets in ihr Gegenteil verkehrt. Statt freien Wettbewerb erleben wir eine Marktkonzentration bei digitalen Infrastrukturen und ein Ringen der Cloud-Plattformen um Kund:innen und ihre Daten. Statt einheitlicher Spielregeln für alle stecken die Hyperscaler ihre Claims ab und bestimmen die Regeln in ihrem Einflussgebiet. Weil ihre Plattformen oft genug alternativlos sind, zwingen sie ihre Regeln ganzen Branchen und Ländern auf.

Wir müssen uns darum der Frage stellen: Wer sind heute die Gewinner der Datenökonomie? Jedenfalls nicht diejenigen, die handfeste Wertschöpfung betreiben, also etwa Produkte herstellen. Stattdessen profitieren Aggregatoren und Plattformbetreiber.

Was wollen Sie dieser Übermacht entgegenstellen?

Jedenfalls arbeiten wir nicht an einem europäischen Hyperscaler, wie manche Schlagzeilen behaupten. Die Schlagkraft von Gaia-X besteht in der Kombination von engagierten Anwender:innen und der Stärke der EU-Normen und Regeln für den europäischen Binnenmarkt. Die europäische Datenschutzgrundverordnung ist ein Beispiel dafür, wie Europa mit seinen Standards über seine Grenzen hinauswirken kann.

Wir müssen sicherstellen, dass die Profite durch digitale Technologie gleichmäßiger und fairer verteilt werden. Das wiederum erreichen wir nur, wenn sich alle an digitalen Ökosystemen beteiligen können, ganz im Sinne eines fairen Wettbewerbs.

Sehen Sie, digitale Geschäftsmodelle basieren auf der Wertschöpfung aus Daten. Nämlich großen Mengen an Daten aus unterschiedlichen Quellen und von unterschiedlichen Akteur:innen. Der eine Weg ist, diese Daten von anderen zu nehmen, sie bei sich zu speichern und die Vermarktung dieses Potenzials zu monopolisieren. Facebook tut das, Google ebenso, auch Amazon. Aber mittelständische Automobilzulieferer mit hoch spezialisiertem Technologie- und Domänenwissen werden ihre Daten nicht bereitwillig abliefern. Ebenso wenig Automobilkonzerne, die mit ihnen kooperieren. Wir brauchen daher eine technische Infrastruktur, bei der alle Beteiligten jederzeit die Souveränität über ihre Daten behalten.

Was verstehen Sie unter digitaler- oder Datensouveränität?

Ausdrücklich nicht Abschottung oder Ausschluss von einzelnen Akteur:innen, beispielsweise Cloud-Providern aus den USA. Sie sind herzlich willkommen, wenn sie sich unseren Regeln verpflichten. Mit Souveränität meinen wir die Fähigkeit, selbstbestimmt und wohlinformiert über die eigene digitale Identität und die eigenen Daten zu entscheiden. Nur mit einer datensouveränen Infrastruktur schaffen wir Vertrauen bei Anwender:innen, und nur so erreichen wir eine flächendeckende Verbreitung digitaler Geschäftsmodelle in Europa.

Was versprechen Sie sich für Europa von einer transparenten Dateninfrastruktur?

Digitale Innovationen, wie Europa sie braucht: In tausenden von Nischen und von unseren unzähligen hochspezialisierten Unternehmen mit ihrem weltweit einzigartigen Domänenwissen. Sie werden vielleicht nicht das nächste Facebook erfinden, aber Lösungen für intelligente Fabriken, für Städte, die natürliche Ressourcen schonen und ihre Bewohner:innen vor Klimahärten schützen, für ein Verkehrswesen, das uns in den Städten mehr Platz und bessere Luft verschafft und unser Klima schont, für ein Gesundheitssystem, das intelligent auf Bedürfnisse von Menschen reagiert und weniger Bürokratie erzeugt. Das ist alles komplizierter und kleinteiliger, als Nutzerdaten für Werbung zu vermarkten. Es braucht Domänenwissen, und es braucht mehr Kooperation. Und beides gibt es nicht ohne Vertrauen und faire Spielregeln für alle.

Der größte Profiteur von einer offenen und transparenten Dateninfrastruktur wird der Mittelstand sein. Wenn wir mit Gaia-X erfolgreich sind, werden es in fünfzehn Jahren die kleinen und mittleren Unternehmen sein, die sagen: Das war damals genau die richtige Entscheidung!

Herr Kraemer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Andreas Weiss & Thomas Sprenger


Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu

Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.

Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.

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