Braucht Europa eine andere Cloud?

Trotz anfänglicher Vorbehalte könnte sich Gaia-X zur Cloud-Infrastruktur der nächsten Generation entwickeln. Im Erfolgsfall wird die Initiative der Datenökonomie in Europa nachhaltigen Schub verleihen. Aber was genau wollen die Initiatoren mit Gaia-X erreichen? Eine Analyse. 

Europa baut seine digitale Infrastruktur für das Datenzeitalter 

Cloud Computing ist nicht die erste Digital-Technologie, bei der Europa von den USA und Asien abgehängt wurde. Auch bei Personal Computern, Betriebssystemen und Anwendungssoftware, später bei Suchmaschinen und sozialen Netzwerken hatten wir Europäer das Nachsehen.  

Den Weltmarkt für Cloud Computing dominieren heute fünf Plattformen aus den USA und China. Allein die drei größten unter ihnen, Amazon, Microsoft und Googles Mutterkonzern Alphabet, halten einen Marktanteil von zwei Dritteln. Hyperscaler nennt man sie, weil sie die Kapazität ihrer Rechenzentren scheinbar unendlich erweitern können. Dank ihrer schieren Größe und Kundenzahl verbuchen sie gigantische Skalenvorteile und Gewinne. Was die Cloud kann und wohin sie sich entwickelt, bestimmen die Hyperscaler mit milliardenschweren Entwicklungsbudgets. Europäische Provider konkurrieren neben diesem Oligopol nur unter ferner liefen und konzentrieren sich häufig auf kleinere, exklusivere Angebote. 

Kein digitaler Wandel ohne die Datenwolke 

Auf die nächste Chance zu warten, ist für die Europäer hierbei keine Option: Die Zukunftstechnologien des 21. Jahrhunderts wie Künstliche Intelligenz, vernetzte Industrieproduktion, Telemedizin, autonome Mobilität, Smart Citys und die digitale Verwaltung basieren allesamt auf der Verfügbarkeit von Cloud-Infrastrukturen. 80 Prozent der Führungskräfte in Deutschland sind überzeugt: In Zukunft hängen Wohlstand und Fortschritt in Europa vom sicheren Zugriff und unserem Einfluss auf diese Technologie ab. So das Ergebnis einer YouGov-Umfrage im Auftrag von eco

Dass Handlungsbedarf besteht, zeigen die schwachen Akzeptanzwerte für die Cloud bei europäischen Unternehmen – sogar nach dem Digitalisierungsschub durch Corona. Im Durchschnitt nutzten 2021 gerade einmal vier von zehn Unternehmen in der EU Ressourcen aus der Cloud, allerdings mit starken Unterschieden zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Vorreiter Skandinavien und Benelux melden Nutzungsraten zwischen sechzig und achtzig Prozent. Die größte Volkswirtschaft in der Union, Deutschland, liegt mit fünfzig Prozent nur knapp über dem Durchschnitt, Frankreich, die zweitgrößte, mit weniger als dreißig Prozent deutlich darunter. Im Vergleich dazu bezogen in den Vereinigten Staaten schon ein Jahr zuvor 94 Prozent aller Unternehmen Services aus der Public Cloud. Ganze 83 Prozent aller IT-Prozesse der US-Wirtschaft werden bereits auf Cloud-Plattformen verarbeitet. 

Deshalb suchen die Europäer nach Wegen, um bei der Gestaltung der wichtigsten digitalen Infrastruktur überhaupt noch mitreden zu können. Zum Jahreswechsel 2020/21 gründeten Unternehmen aus Frankreich und Deutschland zusammen mit 212 Organisationen und Unternehmen die wirtschaftspolitische Initiative Gaia-X. Entgegen mancher Schlagzeile ging es dabei nicht nur um Marktanteile für hiesige Cloud-Provider. Einen europäischen Hyperscaler als eine Art Airbus für die Digitalbranche wird es jedenfalls nicht geben. Doch was wollen die Europäer? Welche Anforderungen muss eine Cloud-Infrastruktur für die Europäische Union und ihren künftigen digitalen Binnenmarkt erfüllen? 

Vertrauen in Cloud-Plattformen braucht Transparenz 

Zuallererst setzt die Initiative bei den Vorbehalten an, die europäische Unternehmen gegen Cloud-Dienste haben: Es fehlt an Vertrauen in den Schutz der Privatsphäre und von Geschäftsgeheimnissen. Außereuropäische Cloud-Provider unterliegen in erster Linie dem nationalen Rechtssystem an ihrem Hauptsitz. In den USA etwa können die Geheimdienste Cloud-Anbieter dazu zwingen, Kundendaten auch aus ausländischen Rechenzentren zugänglich zu machen. Die betroffenen Unternehmen werden danach nicht einmal über die Verletzung ihrer Datensouveränität informiert. 

Diese Rechtspraxis hat ihren Preis: Seit Jahren wird die Konformität der US-Plattformen mit den strengen Datenschutzregeln der EU nur durch rechtliche Provisorien verbürgt, die Klagen regelmäßig zu Fall bringen. Nach jedem dieser Urteile riskieren Cloud-Kunden in Europa, selbst gegen EU-Gesetze zu verstoßen. 

Datensouveränität geht aber noch über den Schutz vor staatlichen Zugriffen hinaus. Wie wir in Folge 1 unserer Blogreihe zeigen, benötigt auch das Teilen von Daten mit Dritten Vertrauen. Solange alle Partner dieselbe Plattform nutzen, gelten zumindest die Regeln eines Anbieters. Doch wie schützt Partei A ihre Daten auf Cloud X, die von Partei B auf Cloud Y verarbeitet werden? Und wie stellt Partei A sicher, dass ihre digitalen Güter nur zu diesem Zweck verarbeitet werden?  

Aus Sicht der Kunden wirken heutige Cloud-Lösungen wie eine Black-Box, weil sie auf kommerziellen und proprietären Lösungen basieren. Nur ihre Betreiber kennen im Detail Eigenschaften und Prozesse ihrer Plattformen, sofern sie nicht durch Gesetze vorgeschrieben werden. 61 Prozent der Führungskräfte aus der obigen YouGov-Umfrage fordern darum von der Bundesregierung ein stärkeres Engagement für die digitale Souveränität von Cloud-Kunden. Analog ergab eine KPMG-Umfrage über den europäischen Cloud-Markt, dass für neun von zehn Befragten Datensouveränität von herausragender Bedeutung bei der Wahl ihres Cloud-Providers ist. 

Digitale Souveränität, Transparenz & Wahlfreiheit 

Mit Gaia-X schaffen die Initiatoren ein europaweites Cloud-Ökosystem, in dem Daten und Dienste in einer vertrauensvollen Umgebung verfügbar sind und gemeinsam genutzt werden. Dazu definiert das deutsche Gaia-X-Projekt für die Federation Services (GXFS) eigens Mindestanforderungen für Cloud-Dienste und lässt die Referenz-Software für den Betrieb des föderierten Ökosystems entwickeln. 

Im Unterschied zum heutigen Cloud-Markt werden diese Föderationsdienste volle Transparenz über die tatsächlichen Service-Attribute jedes Cloud-Angebots garantieren wie den Standort der Daten, Zugänglichkeit durch externes Personal, Datennutzung durch Dritte, Zertifizierungsgrad oder den geltenden Rechtsrahmen. Kunden können geeignete Cloud-Dienste frei nach gewünschten Schlüsseleigenschaften auswählen, ohne sich hierbei auf die freiwilligen Angaben von Anbieterseite verlassen zu müssen. 

Gaia-X-Nutzer identifizieren und vergleichen Service- und Datenanbieter und prüfen ihre Übereinstimmung mit den Vorgaben des Ökosystems. Digitale Souveränität schafft das Gaia-X-Ökosystem sowohl durch Wahlfreiheit bei Diensten als auch durch vollständige Kontrolle über gespeicherte und verarbeitete Daten. 

Die Softwarebausteine für ihre Föderationsdienste stellt GXFS unter Open-Source-Lizenz. Sie erlaubt Mitgliedern von Gaia-X, die Technologie frei zu nutzen und an besondere Branchen-Anforderungen anzupassen und weiterzuentwickeln. 

Neue Anforderungen durch datenbasierte Geschäftsmodelle

In naher Zukunft werden datenbasierte Geschäftsmodelle völlig andere Anforderungen an digitale Infrastrukturen stellen. Grund sind die Menge an Daten und das Tempo, mit dem sie verarbeitet werden. Für 2020 schätzen die Marktforscher von IDC das weltweite Datenvolumen auf über 50 Zetabyte (das entspricht über 50 Billionen Gigabyte). Bis 2025 soll sich dieser Wert mehr als verdreifachen. 

Immer mehr davon wird fernab der großen Rechenzentren anfallen und dezentral am Rand der Netzwerke in der sogenannten Edge gespeichert und verarbeitet. Nach IDC-Prognosen sollen fortschrittliche Anwendungen wie vernetzte Industriemaschinen schon 2025 ein Drittel der anfallenden Daten in Echtzeit verarbeiten. Solche Systeme reagieren empfindlich auf lange Übertragungswege — selbst über lichtschnelle Glasfaserleitungen und neuste 5G-Mobilfunknetze. 

Heutige Cloud-Infrastrukturen sind dagegen weitgehend zentral organisiert. Ihre physische Infrastruktur konzentriert sich auf gigantische Rechencluster in der Nachbarschaft großer Internetknoten. Doch in der heraufziehenden Datenökonomie verliert die einzelne Public Cloud wieder ihre Rolle als zentraler Bezugspunkt der Unternehmens-IT. Sie wird zum Knoten in einem Mesh aus produktionsnahen Infrastrukturen und Datenquellen am Edge sowie stark skalierenden Ressourcen, bereitgestellt von zentralen Plattformen. 

Die technische und ökonomische Antwort auf diesen Bedarf heißt: Dezentralisierung. Allein in Europa braucht die Wirtschaft bald fünf- bis sechstausend Cloud-Provider, um ihren Bedarf an produktionsnahen Datenverarbeitungskapazitäten zu stillen. In naher Zukunft wird der Cloud-Markt somit deutlich klein- und arbeitsteiliger sein, Stichwort Multi-Cloud. 

Die marktbeherrschenden Hyperscaler wiederum haben naturgemäß wenig Interesse daran, ihre Verarbeitungskapazität zu teilen. Wer einmal seine Daten und seine Systeme an eine der großen Public-Cloud-Plattformen überträgt, bindet sich an ihre Technologie. Der Wechsel zur Konkurrenz, erst recht das Orchestrieren verschiedener Provider, erfordern sehr viel Expertenwissen und ist mit hohen Kosten verbunden. Das nötigt Geschäftskunden, möglichst viele Komponenten ihrer Systemlandschaft auf einer Plattform zu bündeln. Unternehmen fürchten diesen Vendor-Lock-in, weil er Abhängigkeit schafft, aus der sie sich nur schwer lösen können. 

Dezentrale Verarbeitungskapazität & Datenverfügbarkeit 

Gaia-X setzt dieser Ausgangslage sein Konzept eines dezentralen Cloud-Ökosystems entgegen. Was ist damit gemeint? Kunden sollen Cloud-Dienste und Datenquellen wie Legosteine zu ihrer Business-IT zusammensetzen können. Entscheidend dabei ist, dass die Services unterschiedlicher Anbieter interoperabel sind. 

Jeder Service und jede Datenquelle repräsentieren einen Knoten in diesem Ökosystem, ganz gleich, ob er Rechen-, Speicher- oder Netzwerkdienste als IaaS, PaaS- oder SaaS-Dienst bereitstellt. Immer unter der Maßgabe, dass Cloud-Kunden die volle Kontrolle über ihre Daten behalten.

Einseitiger Fokus auf die Stärken der US-Wirtschaft 

Wenig überraschend spiegelt die Cloud-Industrie aus dem Silicon Valley in erster Linie die Stärken US-amerikanischer Unternehmen wider: Sie sind Meister darin, Technologien massentauglich zu vermarkten. Aus den USA kommen heute die führenden Streamingdienste, E-Commerce-Portale und sozialen Netzwerke der westlichen Welt. Alles hoch standardisierte Dienste für ein Publikum von Millionen oder sogar Milliarden Kunden. 

Dagegen gründet Europas wirtschaftliche Stärke nicht auf billionenschweren Konzernen, sondern auf den komplexen Wertschöpfungsketten seiner hochspezialisierten Industrieunternehmen. Mit ihrem Fach- und Branchenwissen gehören sie zu den Weltmarktführern in ihren Nischen. 

Daraus leiten sich andere Strategien für datenbasierte Geschäftsmodelle ab. In den industriellen Wertschöpfungsketten, wie etwa in der Autoindustrie, wollen Geschäftspartner Daten auf Augenhöhe teilen, ohne die Kontrolle abzugeben. Um sich schnell an neue Marktanforderungen anzupassen, müssen sie verschiedene Datenquellen und Cloud-Services flexibel orchestrieren können. 

Digitaler Fortschritt in Amerika und Europa sind also zwei Paar Schuhe. 

Die Hyperscaler produzieren laufend Innovationen, die ihren monolithischen Technologiestack stärken und hypervertikalisierte Geschäftsmodelle unterstützen. Europas Wirtschaft braucht dagegen Innovation in tausend Nischen, die zu klein sind für die Geschäftsmodelle der Hyperscaler. Doch spezialisierte Provider sind im heutigen Cloud-Markt kaum wettbewerbsfähig. 

Mehr Wettbewerb und Innovation für Wertschöpfung in Europa 

Darum will die Gaia-X-Initiative digitale Innovation für Europa in Branchennetzwerken und Datenräumen organisieren. Unternehmen einer Branche wissen schließlich selbst am besten, mit welchen Technologien sie Daten austauschen, übertragen und verarbeiten. Gemeinsam legen sie in ihrer Domäne die Service-Attribute für Datenquellen und Cloud-Services fest und wählen danach ihre Provider. 

Das ist die Idee der föderierten Cloud. Automobilbauer und ihre Zulieferer beispielsweise organisieren sich in der Föderation Catena-X. So schaffen die beteiligten Akteure ein horizontales Netz für die gemeinsame Nutzung von Clouds und Daten, in dem einheitliche Regeln für Sicherheit, Transparenz, Souveränität und Interoperabilität gelten.  

Gaia-X liefert dazu Standards und eine Musterarchitektur, inklusive der Föderationsdienste, die bereits in Entwicklung sind. Um Betrieb und Verwaltung sowie um Entwicklung weiterführender Technologien kümmert sich jede Föderation selbst. 

So ermöglicht Gaia-X den Austausch von Daten innerhalb und zwischen Branchen sowie die Vernetzung von Daten und Diensten über Anbieter- und Kundengrenzen hinweg. Gemeinsame Standards helfen, branchenspezifische Datensilos aufzubrechen, die aufgrund fehlender Datenschnittstellen nicht verknüpft und ausgewertet werden können.  

Zugleich erschafft der Ansatz föderierter Ökosysteme einen Markt für spezialisierte Cloud-Provider und die wirtschaftliche Basis für Innovationen in den industriellen Nischen europäischer Hidden Champions. Von der Markttransparenz, dem breiten Zugang zu Dienstleistungsangeboten und den sich daraus ergebenden Chancen profitieren vor allem auch Unternehmen aus dem Mittelstand. 

Kein Nachahmerprodukt 

Hat Europas IT-Industrie womöglich auch deshalb keine großen Digital-Plattformen hervorgebracht, weil es schlicht nicht zu uns Europäern und Europäerinnen passt? Für Gaia-X und seine Vision braucht es jedenfalls etwas, das wir uns wirklich erarbeitet haben: Die Fähigkeit Kompromisse zu schließen und widersprüchliche Interessen zu einem Gemeinsamen zu formen – auch wenn hinterher keiner weiß, wie man das dann nennen soll. Staatenbund, supranationaler Verbund, Cloud-Ökosystem, Dataspaces, föderiert, dezentral… Mit Gaia-X haben wir jedenfalls die reale Chance, aus bestehenden Technologien etwas gleichwohl Neues und Bahnbrechendes zu entwickeln. Es wird Zeit, dass nicht nur wir uns an die Technik anpassen, sondern die Technik sich an unsere europäische Lebensart. 

Im nächsten Beitrag unserer Gaia-X-Reihe sprechen wir mit Peter Kraemer, dem Leiter des Gaia-X Hubs Germany, über die Arbeit der Gaia-X-Community in Deutschland. 

See you soon,
Andreas Weiss & Thomas Sprenger


Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu

Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.

Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.

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