Zu Besuch in Tokio: Zwei Industrienationen suchen Wege ins Datenzeitalter

Mein Engagement für Gaia-X hat mich durch ganz Europa geführt. Aber selbst 9.000 Kilometer weit weg von Berlin und Brüssel kämpfen Volkswirtschaften mit dem digitalen Wandel. Aufschlussreich ist da der Vergleich mit einer Exportnation, die ebenso bekannt ist für ihre hochwertigen Industrieprodukte wie Deutschland. Angesichts der Dringlichkeit der Probleme überraschten unsere Gastgeber mit offener Selbstkritik. Impressionen vom zweiten deutsch-japanischen Industrie-4.0-Forum in Tokio.

Der Juni schiebt sich in Japan wie eine zusätzliche Jahreszeit zwischen Frühjahr und Sommer: Die Regenzeit ist bereits sommerlich warm, aber drückend schwül und nass. Eine Zeit des Übergangs, die Einheimischen wie Besuchern Geduld abverlangt. Insofern passte auch das Wetter zum Anlass des zweiten deutsch-japanischen Industrie-4.0-Forums Mitte Juni in Japans Hauptstadt: Aktuell kämpfen beide Länder als exportorientierte Industrienationen um die Digitalisierung ihrer lebenswichtigen Wirtschaftssektoren. Ausgang offen. Organisiert wurde das Treffen von deutscher Seite von der Plattform Industrie 4.0, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, der deutsch-japanischen Handelskammer sowie der deutschen Botschaft in Tokio. Wollte man alle Themen und Diskussionen dieses Treffens auf ein einziges Wort verdichten, dann wäre es: DATEN.

Kein Wohlstand mehr ohne Datenaustausch

Daten waren beim Aufstieg der japanischen und deutschen Industrien im 20. Jahrhundert nachrangig. Für das aktuelle Jahrhundert hingegen erwarten beide Länder, dass der freie Datenfluss zwischen Geschäftspartnern und Wirtschaftsräumen ebenso wichtig sein wird für den Wohlstand wie der Austausch von Gütern selbst.

Doch mit dem Wert der Daten steigt auch der Aufwand für ihren Schutz. Die Japaner fürchten, dass wachsende Datenschutzbürokratien Handelsvolumina und Produktivität belasten könnten, besonders für exportorientierte Volkswirtschaften. Deshalb stellte Japans damaliger Premierminister Shinzo Abe auf dem Weltwirtschaftsforums 2019 in Davos sein Konzept für „Data Free Flow with Trust“ (DFFT) vor. Sein Ziel: Die Datenschutzregime verschiedener Wirtschaftsregionen nicht einzuebnen, sondern interoperabel zu machen. Im selben Jahr starteten auch die Europäer mit Gaia-X ihre Dateninitiative, die sichere und souveräne Datenräume auf dem Kontinent schaffen will.

Wollen den Welthandel durch grenzüberschreitende Datenräume digitalisieren

„Wir haben die Digitalisierung unterschätzt!“

Solche Ansätze wurden 2019 auch beim ersten deutsch-japanischen Industrie-4.0-Forum diskutiert. Dann sorgte die Corona-Pandemie für eine Zwangspause. Im Juni nahmen wir den Gesprächsfaden schließlich wieder auf – nach vier Jahren, in denen wir alle beim digitalen Wandel auf die Vorspultaste gedrückt hatten. Jetzt ist der Bedarf beider Länder nach einer vernetzten Industrieproduktion mit verbindlichen Regeln für den Datenaustausch größer denn je. Aber die Fortschritte stellen sich nur langsam ein.

Der Digitalvorstand eines großen japanischen Konzerns drückte es so aus: „Wir haben die Digitalisierung unterschätzt! Wir stellen hoch entwickelte Produkte her, aber wir vernetzen sie nicht miteinander.“ (Chief Digital Officer aus Japan). Diese Offenheit, zumal vor eigenen Mitarbeitern, hatte ich in Japan nicht erwartet. Aber es zeigte mir, wie sehr allen Teilnehmern die Dringlichkeit der Probleme bewusst war.

Knappe Ressourcen für die Transformation

Japan steht dabei vor besonderen Herausforderungen:

  • Mit durchschnittlich 85 Jahren leben nur Menschen in San Marino und Monaco länger als Japanerinnen und Japaner.
  • Weil zu wenige Babys im Inselstaat geboren werden, wird seine Bevölkerung von heute 123 Millionen bis 2050 auf 100 Millionen Menschen schrumpfen, auch weil die Politik weiterhin gezielte Zuwanderung ausschließt.
  • Zugleich ist kein Land der Welt höher verschuldet im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung. Schulden, steigende Inflation und Zinsen engen Japans wirtschaftspolitischen Spielraum schmerzhaft ein.
  • Ausgerechnet jetzt bedrohen die wachsenden Großmachtansprüche der chinesischen Nachbarn den Frieden in der Region.

Wie in Deutschland läuft auch für Japan die jahrzehntelange Friedensdividende aus. Kraft, Ressourcen und Zeit für Reformen und Innovationen werden knapp. Die Komfortzone einer jahrzehntelang friedlichen und prosperierenden Globalisierung schwindet. Umso wichtiger ist für beide Länder, dass sie in einer digitalisierten und unruhigeren Weltwirtschaft ihre Stärken bewahren. Aufschlussreich am Treffen in Tokio war, dass Japan und Deutschland hierfür unterschiedliche Strategien entwickeln.

Offenheit ab jedem Datenpunkt versus nationale Grenzkuppelstellen für Daten

Wie wollen Japan und Deutschland den grenzüberschreitenden Datenaustausch denn nun regeln?

Unser japanisches Publikum zeigte intuitives Verständnis für das Strukturdiagramm von Gaia-X. Das hatten wir auch noch nicht erlebt.

Als Teil der deutschen Delegation durfte ich zusammen mit Thomas Niessen, Managing Director beim Kompetenznetzwerk Trusted Cloud, unseren Ansatz vorstellen: Mit Gaia-X und den Gaia-X-Föderationsdiensten wollen wir ein Ökosystem souveräner Datenföderationen schaffen, das Daten bereits am Ort ihres Entstehens sicher zugänglich macht – auch für Geschäftspartner im Ausland. Mit Gesetzen wie dem Data Act will die Europäische Kommission zudem Industriedaten aus ihren Silos befreien und sogar die Datenmonopole der Hersteller brechen.

Gemeinsamer Vortrag mit Thomas Niessen zu den Gaia-X Federation Services

Japan pflegt beim Thema Offenheit eher eine Binnensicht und setzt ansonsten auf Interoperabilität mit ausländischen Datenschutzregimen. Auch künftig wird ein japanisches Unternehmen wie Mitsubishi Electric seine einheimischen Produktionsstandorte nicht direkt mit Datenpunkten in Europa vernetzen. Stattdessen verfolgt Japan einen indirekten Ansatz: Vergleichbar mit den Grenzkuppelstellen zwischen europäischen Stromnetzen sollen Mittler japanische Industriedaten sammeln und über zentrale Übergabepunkte kontrolliert an Partner in aller Welt übertragen.

Doch an dieser Stelle passt der Vergleich von Deutschland und Japan nicht: Tatsächlich sollte man eher Japan mit der Europäischen Union vergleichen. Innerhalb der EU strebt ein Mitgliedsland wie Deutschland einen weitgehend offenen Datenfluss an. Beim Austausch mit Partnern außerhalb der Union wollen die Europäer ebenso wenig wie die Japaner auf ein angemessenes Kontrollniveau verzichten. Insofern offenbarte unser Treffen in Tokio mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. In der Praxis werden sich die Lösungen Europas und Japans wahrscheinlich weitgehend gleichen.

Ein alternativer Entwicklungspfad: Europa setzt auf Open-Source

Einen Aspekt allerdings gibt es, bei dem wir unseren japanischen Freunden vielleicht einen Schritt voraus sind: Die Vielfalt und Dichte der Gegensätze innerhalb der EU zwischen Mitgliedern, Interessen und Ideen führte uns zu einer alternativen Innovationsstrategie. Im Wettbewerb mit den digitalen Megaplattformen aus den USA und China, werden wir unsere Ziele sicher nicht mit proprietären Lösungen erreichen. Unsere Mittelständler und selbst unsere Konzerne sind zu klein, um jeder für sich technische Innovation in der ganzen Breite zu entwickeln.

Darum stellen wir – nach anfangs kontroversen Diskussionen – wichtige Technikkomponenten für digitale Souveränität als Open Source der Community zur Verfügung. So bündeln wir unsere Ressourcen und schaffen einen gemeinsamen technologischen Unterbau, zu dem viele beitragen und auf dem jedes Unternehmen aufsetzen kann. Nach unserer Überzeugung ist Open Source das beste Fundament und der stärkste Motor für föderale Ökosysteme. Und vielleicht auch ein Ansatz für Japan, dessen finanzielle Ressourcen stärker denn je strapaziert sind?

Digitale Infrastruktur für den Welthandel

Wie wir digitale Innovation auch organisieren, eines war allen Teilnehmer:innen in Tokio klar: Der Welthandel braucht ein neues technologisches Fundament! Internationale Wirtschaftsbeziehungen werden sich in neuen technischen Infrastrukturen spiegeln. Eine datenbasierte Wirtschaft benötigt mehr als Normen und Standards, um voll operationsfähig zu sein. Es bedarf eigener technischer Ökosysteme für Datenräume, Datenföderationen und Datenschutzregime, die in unterschiedlichen Graden untereinander interoperabel sein müssen.

Das Tempo des Wandels in den vergangenen Jahren zeigt allerdings, dass uns die Zeit fehlt, um solche Ökosysteme schrittweise zu entwickeln. Weil die Reise so lang ist, müssen wir mehr Risiken eingehen und Probleme parallel angehen.

Tatsächlich befinden sich Japan ebenso wie die EU-Staaten noch in der Konzeptionsphase. Die ersten Prototypen für Datenräume und -Föderationen wie zum Beispiel Catena-X oder die Servicemeister-KI-Initiative zeigen, was möglich ist. Aber auch hier wird die Herausforderung sein, die Datenräume von wenigen experimentellen Datenpunkten auf Zehntausende zu skalieren.

Im inneren Stadtgebiet von Tokio leben fast 14 Millionen Menschen, über 30 Millionen in der Metropolregion

Durch Austausch in die digitale Zukunft

Mit Spannung gilt es zu beobachten, wie Japan und Deutschland den digitalen Wandel zukünftig gestalten werden. Als Delegation leisteten wir unseren Beitrag, in dem wir den japanischen Kolleg:innen unsere europäischen Projekte präsentierten und uns im Gegenzug über die japanischen Initiativen informierten. Nun gilt es, den weiteren Austausch zu pflegen. Meine Reise nach Japan machte mir jedenfalls nachdrücklich klar: der Digitalisierung wird in Japan von Politik und Wirtschaft gleichermaßen die notwendige Priorität zugeschrieben. Hier zeigt sich die beeindruckende Disziplin der Japanerinnen und Japaner. Nicht nur glänzt Japan wortwörtlich durch seine sauberen Städte. Auch die Digitalisierung wird mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und Hingabe angegangen.


Andreas Weiss & Thomas Sprenger


Jeden Monat auf LinkedIn und www.gxfs.eu

Hier auf LinkedIn sowie auf www.gxfs.eu führen wir Sie jeden Monat durch die Welt von Gaia-X. Unsere Analysen und Interviews präsentieren ihnen Hintergründe und Einblicke, wie eine europäische Initiative und ihre Mitstreiter ein Ökosystem für die Wertschöpfung aus Daten schaffen wollen.

Kopf dieser Artikelreihe ist Andreas Weiss. Als Leiter für digitale Geschäftsmodelle bei eco sowie als Direktor von EuroCloud Deutschland_eco ist Andreas Weiss bestens mit der Internet- und Cloud-Industrie in Europa vernetzt und vertraut. Seine Erfahrungen bringt er in die Gaia-X Federation Services (GXFS) ein, dessen Projekteams für die Entwicklung der Gaia-X-Kerntechnologien verantwortlich sind. Unter Federführung des eco wird das GXFS-DE-Projekt zudem vom deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert und steht im engen Austausch mit der Gaia-X Association for Data and Cloud (AISBL). Unterstützt wird Weiss auf diesem Blog von Thomas Sprenger, der als Autor und Texter seit zwanzig Jahren über den digitalen Wandel schreibt.

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